Heribert Prantls Rede im Literaturhaus zum Weltflüchtlingstag

Am 20. Juni 2023, zum Weltflüchtlingstag, wurde die neue Auflage von “Todesursache: Flucht” im Literaturhaus München vorgestellt. Kristina Milz und Anja Tuckermann stellten das Projekt vor und lasen zusammen mit der Schauspielerin Sabrina Khalil und dem Schauspieler Thomas Lettow drei Porträts von Verstorbenen. Zur Einführung in den Abend sprach Heribert Prantl, einer unserer Gastautoren der ersten Stunde. Seine eindrucksvolle Rede lässt sich hier nachlesen.

Liebe Kristina Milz, liebe Anja Tuckermann,

Liebe Freundinnen und Freunde der Menschenrechte, die Sie den Start der Neuauflage dieses bitteren und notwendigen, dieses bitter-notwendigen Buchs begleiten,

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses München,

Wie ernst es war, haben wir erst begriffen, als wir die Fernsehbilder von den Toten sahen. Vorher war das alles weit weg und ging uns nichts an – dachten wir, wenn wir überhaupt daran dachten. Aber dann kamen die Berichte aus Italien, und wir sahen die grauenhaften Aufnahmen von dort: Sarg an Sarg, ganze Alleen von Särgen. Und in jeder dieser Holzkisten, die eine wie die andere aussahen, lagen unverwechselbare Menschen mit einer unverwechselbaren Geschichte. Sie waren gestorben, waren erstickt, einsam, verloren, verzweifelt. Ihre Lieben konnten nicht bei ihnen sein. Und jetzt konnten sie ihnen nicht einmal das letzte Geleit geben.

Diese vielen Toten in Italien haben einen heilsamen Schock ausgelöst. Sie haben uns aus unserer Gleichgültigkeit geholt. Es ist bitter, dass es oft erst Tote braucht und drastische Bilder, um zu verstehen, woran es fehlt. Nicht nur einige, die man Gutmenschen nennt, haben es verstanden, sondern die Politik, quer durch die Parteien, hat begriffen: Wir müssen handeln. Es geht um Leben und Tod. Unter dem Eindruck der grauenvollen Bilder wurde gehandelt. Die Politik konzentrierte sich auf die Rettung von Menschen. Sie stellte die Interessen der Wirtschaft zurück, sie nahm eine Rezession in Kauf: Fabriken und Betriebe wurden geschlossen, die Produktion wurde umgestellt auf andere Güter, die in der Krise nötig waren. In den Krankenhäusern wurden Operationen verschoben und Betten geräumt, um Platz für die Rettung Bedürftiger zu schaffen.Und die Politiker wurden dafür gelobt, dass sie das anordneten. Es wurde von ihnen gefordert, noch mehr zu tun, um des Elends Herr zu werden. Die Kirchen ließen sogar ihre Gottesdienste zugunsten von Schutzmaßnahmen ausfallen. Den Kritikern solcher Maßnahmen wurden Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit abgesprochen. Fast die ganze Gesellschaft war sich einig darin, dass jetzt Solidarität mit den Schwachen das Gebot der Stunde sei. Diese schlichte Erkenntnis löste eine Rettungslawine aus.  

Das alles geschah nicht im Jahr 2013, als die Sargalleen mit den Körpern der ertrunkenen Flüchtlinge im italienischen Lampedusa aufgereiht standen und der neugewählte Papst Franziskus seine erste Auslandsreise auf diese Insel unternahm. Das alles geschah nicht, als die Leichen ertrunkener Kinder an den Küsten der Türkei und der griechischen Inseln angespült wurden. Es geschah nicht, als die Boote, in denen sich die Flüchtlinge drängten, auf dem Mittelmeer untergingen – wie zuletzt vor zwei Wochen, als vor der griechischen Küste ein Schiff mit siebenhundert Flüchtlingen an Bord sank, darunter viele Kinder und schwangere Frauen.

Die genannten Rettungsaktionen gab es im Jahr 2020, als Corona begann und sich in Bergamo Sarg an Sarg reihte. Es gab und gibt die Rettungsaktionen nicht für Flüchtlinge, nicht für die Opfer von Diktatur, Gewalt und Hunger; es gab sie für die Opfer von Corona.

Das Elend ist namenlos. Seit 2014 sind im Mittelmeer 20.000, vielleicht 25.000 Menschen ums Leben gekommen bei dem Versuch, Europa auf der zentralen Mittelmeerroute zu erreichen; so schätzt die Internationale Organisation für Migration. Es gibt eine Aktion, die „Beim Namen nennen“ heißt. Diese Aktion macht sich die Mühe, die Namen der ertrunkenen Flüchtlinge zu recherchieren und die wenigen Spuren ihres Schicksals ehrend festzuhalten. Die Europäische Union macht sich solche Mühe nicht. Sie müht sich stattdessen, auch das Recht sterben zu lassen, auf das sich die Ertrunkenen hatten berufen wollen.

Der EU-Asylkompromiss, auf den sich die Mitgliedsstaaten soeben geeinigt haben, ist der Versuch, die gesamte Migration zu irregularisieren und zu illegalisieren. Es ist zu befürchten, dass solche Pläne auch hierzulande auf wachsende Zustimmung stoßen, weil Bürgermeister und Landräte nicht mehr wissen, wie sie mit den Folgen der bankrottierten EU-Flüchtlingspolitik gut umgehen sollen. Es gibt in der EU starke Tendenzen zu einer Trumpisierung, Salvinisierung, PiS-isierung und Orbanisierung der Asylpolitik. Die EU-Anstrengungen haben das Ziel, dem Asylrecht die Rechtsqualität und dem Flüchtling den Schutz in Europa zu nehmen. Fast alles, was in Brüssel unter der Überschrift „Reform“ der Flüchtlingspolitik betrieben wird, dient nicht der Verbesserung, sondern der Verschlechterung des gegenwärtigen Zustands, der schlimm genug ist. Er zwingt die Menschen, die Schutz suchen, dazu, ihr Leben zu riskieren.

Verbessert, nämlich verschärft, wird allein das Prinzip Abschreckung. Zu den geplanten Abschreckungsmaßnahmen gehören Hotspots an allen Außengrenzen, also Freiluftgefängnisse, wie man sie von den griechischen Inseln wie Kos oder Lesbos kennt. Zu den Abschreckungsmaßnahmen gehört die Ausweitung von Inhaftierung und Isolation. Zu den Abschreckungsmaßnahmen gehört die Kriminalisierung der Seenotrettung. Die Unterstützung von Folterstaaten gehört auch dazu, also von Staaten wie Libyen, dessen sogenannte Küstenwache dann, finanziert von der EU, Flüchtlingsboote rammt.

Zu den neuen Entrechtungsmaßnahmen gehört vor allem die Ausweitung des Konzepts der sicheren Drittstaaten. Das klingt erst einmal nur routiniert, es ist aber perfide: Flüchtlinge, die an der EU-Außengrenze aufgehalten werden, müssen künftig damit rechnen, in irgendwelche Staaten verfrachtet zu werden, in denen sie sich noch nie aufgehalten haben, mit denen aber die EU einschlägige Verträge geschlossen hat; in diesen Verträgen haben diese Staaten gegen Zahlung von viel Geld zugesichert, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Staaten wie Ruanda, Senegal oder Tunesien sind da im Gespräch. Von einer „Auslagerung des Flüchtlingsschutzes“ ist die Rede. Als der damalige britische Premier Boris Johnson vor eineinhalb Jahren damit begann, Asylbewerber ohne jede vorherige Prüfung ins arme Ruanda zu verfrachten, wurde das in Brüssel noch mit Entsetzen und Kopfschütteln kommentiert. Nun soll das Prinzip Johnson von der EU nobilitiert werden.

Europa muss die immer umfassendere Illegalisierung der Migration beenden. Es muss damit aufhören, alle Wege nach Europa für Irrwege zu erklären. Europa muss natürlich nicht alle aufnehmen, die kommen; aber Europa muss legale Wege für Migration öffnen und befestigen – und damit klarmachen, dass es nicht einfach darum geht, die Flüchtlingszahlen niederzuknüppeln, sondern darum, Schutz und Hilfe auf einen guten Weg zu bringen. Das wünsche ich mir.

Vor zwei Wochen ist im Mittelmeer, vor der Küste Griechenlands, ein überfülltes Flüchtlingsboot gesunken; man spricht von fünfhundert Toten, darunter viele Kinder und schwangere Frauen. Es ist dies wie ein grausamer Kommentar zum EU-Asylkompromiss und zum heutigen Weltflüchtlingstag.

Liebe Freundinnen und Freunde der Menschenrechte,

stellen wir uns vor, es gäbe ein großes Flüchtlingsbuch – als Buch zum Weltflüchtlingstag; darin verzeichnet alle Schicksale, alles Leid, alles Elend, alle Hoffnung, alle Zuversicht. Stellen wir uns vor, es gäbe in diesem großen Flüchtlingsbuch eine Seite für jeden Flüchtling, eine Seite für jeden Vertriebenen, eine Seite für jeden, der seine Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen musste. Eine Seite nur für jeden; für alle Sehnsucht, für alle Enttäuschung, für alle Ängste, für das Leben und für das Sterben und für alles dazwischen.

Stellen wir uns vor, wie ein solches Buch aussähe: Die aktuelle Ausgabe hätte hundert Millionen Seiten. So viele Flüchtlinge gibt es derzeit auf der Welt. Die Flüchtlinge aus der Ukraine und die Flüchtlinge, die über den Balkan und das Mittelmeer nach Europa und nach Deutschland kommen, sind ein kleiner Bruchteil der gigantischen Gesamtflüchtlingszahl.

All diese Flüchtlinge wären notiert in diesem Buch: Diejenigen, deren Heimat von Putin zerbombt wird; diejenigen, die dem Terror der Islamisten mit knapper Not entkommen sind; diejenigen, die es nach Europa schaffen und dort von Land zu Land geschickt werden; diejenigen, die im Mittelmeer ertrunken sind; diejenigen, die durch die Wüsten Afrikas gelaufen sind und dann an der Grenze zu Europa, in Ceuta und Melilla, vor einem Stacheldrahtzaun stehen; diejenigen, die zu Millionen in ihrem Nachbarland in Notlagern darauf warten, dass die Zustände im Heimatland besser werden; diejenigen auch, die nach dem Verlassen ihrer Heimat verhungert, verdurstet oder ertrunken sind, die verkommen sind in der Fremde; die Kinder wären genauso verzeichnet in diesem Buch wie ihre Mütter und Väter, die Kinder also, für die es keinen Hort und keine Schule gibt. Es stünden in diesem Flüchtlingsbuch auch diejenigen Menschen, die aufgenommen worden sind in einer neuen Heimat – und wie sie es geschafft haben, keine Flüchtlinge mehr zu sein.

Es wäre dies nicht ein einzelnes Buch; es wäre ein Buch bestehend aus vielen Bänden. Wenn jeder dieser Bände fünfhundert Seiten hätte, dann bestünde das Flüchtlingsbuch aus zweihunderttausend Bänden. Wenn man die Bände stapelte, wäre der Bücherturm höher als der höchste Berg der Erde. Es gibt diesen Bücherturm nicht. Aber es gibt das Buch von Kristina Milz und Anja Tuckermann, das „Todesursache Flucht“ heißt und den Untertitel trägt: „Eine unvollständige Liste“; es ist soeben in dritter, neubearbeiteter Auflage erschienen. Dieses Buch stellen wir Ihnen heute Abend vor.

Und ich lege Ihnen dieses Buch von Kristina Milz und Anja Tuckermann auch deswegen ans Herz, weil das Thema Migration eines meiner journalistischen Lebensthemen ist; und weil ich dieses Buch überaus schätze – weil es aufrüttelt.  Wie Themen zu journalistischen Lebensthemen werden, darüber habe ich in meinem neuen Buch geschrieben, das soeben, heute in die Buchläden kommt. Es heißt „Mensch Prantl. Ein juristisches Kalendarium“ – und es liegt auch draußen auf einem Büchertisch; es ist der erste Büchertisch, auf dem es liegt. Ich werde es hernach, wenn Sie mögen, signieren. Ein Kapitel dort handelt vom heutigen Weltflüchtlingstag. 20. Juni, Weltflüchtlingstag.

Besonders bei meinen Texten zum Ausländer- und Asylrecht konnte ich erfahren, wie klug, wie begierig, aber auch wie bösartig und aggressiv Leserinnen und Leser sein können. Davon können sicherlich auch Kristina Milz und Anja Tuckermann berichten. Die erste körperliche Attacke auf mich habe ich vor dreißig Jahren in den Zeiten der Asylrechtsänderung erlebt. Mein Zug war gerade in den Hauptbahnhof Stuttgart eingefahren, ich war beim Aussteigen, als eine Frau mittleren Alters auf mich zustürzte und mich anblaffte: „Sind Sie Heribert Prantl?“ Als ich „Ja“ sagte, schrie sie mich an: „Sie verbreiten nur Lügen, Sie sind der Untergang Deutschlands“ – und begann auf mich einzuprügeln. Mir kam Adelheid Streidel in den Sinn, also die Frau, die damals, im Jahr 1990, bei einer Wahlkampfveranstaltung Oskar Lafontaine ein Messer in den Hals gestochen hatte. Ich schob die Frau mit beiden Händen weg und schaute, dass ich wegkam. Sie rief mir noch etwas von Umvolkung hinterher, und dass ich mit „meinen Asylanten“ Deutschland ruiniere.

Wer ruiniert wen? Ich denke, Deutschland darf, die EU darf mit der Art, wie sie mit geflüchteten Menschen umgeht, nicht die Rechtskultur ruinieren. Das Buch von Milz und Tuckermann ist ein bitter notwendiger Beitrag zur Rechtskultur, ein Beitrag zur Rettung der Menschlichkeit. Danke, dass Sie alle heute Abend hier sind.

Prof. Dr. Heribert Prantl ist politischer Publizist, Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung. Er war lange Jahre Leiter der Ressorts Innenpolitik und Meinung der Süddeutschen Zeitung und Mitglied der Chefredaktion.