Tankred Stöbe (Foto: Barbara Sigge) war im Jahr 2015 für Ärzte ohne Grenzen auf dem Rettungsschiff Dignity im Mittelmeer im Einsatz. Er unterstützt unser Buchprojekt. Hier erzählt der Notarzt aus Berlin die Geschichte des 14-jährigen Ulet, für den leider jede Hilfe zu spät kam.
Von Tankred Stöbe
Die Geschichte von Ulet verlief tragisch, auch wenn wir das meiste davon erst hinterher erfuhren. Der 14-jährige Junge war allein von Somalia nach Libyen gekommen und musste unter unwürdigen Bedingungen dort arbeiten. Zudem wurde er mit schweren und wiederholten Stockschlägen gefoltert, ausgeprägte Hämatome auf seinem Rücken gaben Zeugnis davon. Nach reichlich Blut-Erbrechen litt Ulet an einer schweren Blutarmut mit Organverletzungen sowie einer bereits fortgeschrittenen und ausgeprägten Lungenentzündung.
Dass er es lebend auf dem Schlauchboot bis auf unser Rettungsschiff schaffte, war fast ein Wunder. Zunächst war Ulet verwirrt und lehnte alle Behandlungsmaßnahmen ab, wiederholt versuchte ich, ihn zu überreden, zumindest Sauerstoff und intervenöse Flüssigkeitsgaben anzunehmen. Sein Gesundheitszustand stabilisierte sich dann schrittweise, sodass ich annahm, er würde sich bis Italien weiter bessern. Ulet wurde im Laufe der Zeit zugänglicher und akzeptierte dann auch die therapeutischen Maßnahmen.
In der letzten Schiffsnacht drängte er plötzlich nach draußen, all unser Zureden half nichts, er wollte die enge Behandlungskabine unseres Schiffes verlassen und einmal ins Freie, die klare Nachtluft atmen und den Blick aufs Meer wagen. Mit unserer Hilfe ging er die wenigen Schritte bis an Deck, doch dort brach er plötzlich und unvorhersehbar in den Armen der Krankenschwester zusammen. Sofort begannen wir eine Wiederbelebung, aber sie blieb erfolglos. So starb Ulet wohl an einem septischen Herzversagen.
Ulet starb an den Folgen von Misshandlungen und Zwangsarbeit in Libyen und an seiner Erkrankung, alles Folgen einer Flucht vor dem Krieg in seinem Heimatland unter extremen Bedingungen. Er hat Europa nicht erreicht, aber immerhin ein Schiff dorthin, auf dem sich ein medizinisches Team rund um die Uhr um ihn kümmerte.
Als wir im italienischen Hafen von Augusta ankamen, wurden wir von zahlreichen Journalisten erwartet, die vor allem über den tragischen Todesfall an Bord berichten wollten. Wäre Ulet in Libyen gestorben, so wäre sein Tod wohl unbemerkt geblieben. Hätte er überlebt, wäre er einer von Tausenden gewesen, denen in Europa heute immer mehr Ablehnung und Misstrauen entgegenschlägt. Der Umgang Europas mit Todesfällen auf der Flucht erschien mir in diesem Moment zynisch. Vielleicht kann man sagen, dass Ulet nach seinem Tod jene Aufmerksamkeit zukam, die ihm auf seiner schrecklichen Flucht verwehrt geblieben ist.
Es ist wichtig, dass wir in den Menschen auf der Flucht die einzelnen Schicksale sehen und diejenigen, die zu Tode kommen, nicht vergessen. Deshalb unterstütze ich das Projekt „Todesursache: Flucht“.
Ärzte ohne Grenzen (Foto aus dem Kongo: Borja Ruiz Rodriguez/MSF) war lange im Mittelmeer im Einsatz. Teams der Organisation haben in den vergangenen vier Jahren mehr als 77.000 Menschen aus Seenot gerettet. Italien und Malta sperrten im Juni 2018 ihre Häfen für Rettungsschiffe privater Organisationen. Das von SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen gemeinsam betriebene Schiff Aquarius musste nach tagelangen Streitereien der EU-Staaten mit zahlreichen traumatisierten Geretteten an Bord einen langen Umweg bis nach Spanien fahren, um die Menschen sicher an Land bringen zu können.
Das medizinische Team von Ärzte ohne Grenzen hat an Bord der Aquarius zahlreiche Menschen mit Verletzungen versorgt, die diese in Libyen erlitten haben. Die Patienten erzählten von Gewalt und Misshandlungen, die sie in den Händen von Schleppern, bewaffneten Gruppen und Milizen erlitten haben. Einige wiesen Spuren von Folter und extremer Gewalt auf, etwa Brand-, Stich- und Schusswunden, Knochenbrüche oder verkrüppelte Hände oder Füße. Zahlreiche Frauen berichteten von Vergewaltigungen, einige waren schwanger und wurden von der Hebamme versorgt. Viele litten an schweren Hautinfektionen, die die Behandlung mit Antibiotika erforderten. Andere wiesen Verätzungen durch das toxische Benzin-Salzwassergemisch in den Booten auf. Im Winter waren mehrere Gerettete unterkühlt.
Seit Dezember 2016 leisten die Teams von Ärzte ohne Grenzen – soweit ihnen der Zugang gewährt wird – medizinische Hilfe in Internierungslagern in der Hauptstadt Tripolis und im Gebiet um Misrata und Khoms, die offiziell unter der Verwaltung der von der EU unterstützten libyschen Einheitsregierung stehen. Sie behandelten seither tausende Patienten mit Beschwerden, die überwiegend auf die entsetzlichen Lebensbedingungen zurückzuführen waren, etwa Krätze, Atemwegsinfektionen und Austrocknung. Einige Patienten hatten auch Verätzungen von der Fahrt über das Meer oder Verletzungen von der Zeit in Libyen erlitten. Viele waren schon vor der Überfahrt Opfer von sexueller Gewalt, Menschenhandel, Folter und Misshandlungen geworden.