Um jeden Preis

Gewalt und Entrechtung an den EU-Außengrenzen eskalieren, Migration nach Europa wird immer offener als „Angriff“ denunziert.

Von Kerem Schamberger und Valeria Hänsel (medico international)

Die Menschen hatten es aus dem Tschad, aus dem (Süd-)Sudan, aus Burkina Faso, Guinea und dem Senegal bis hierher geschafft. Doch als die rund 1.500 Personen am Freitag, den 24. Juni am marokkanischen Grenzposten Barrio Chino versuchten, die militarisierten Grenzanlagen zur Exklave Melilla zu überwinden und in das territoriale Überbleibsel des spanischen Kolonialismus zu gelangen, kam es zur Katastrophe. An den Toren zur EU wurden sie von marokkanischen Sicherheitskräften mit Tränengas beschossen und mit Schlagstöcken verprügelt. Panik setzte ein und die Menschen stürzten von den meterhohen Zäunen in die mit NATO-Draht gefüllten Gräben der spanischen Festungsanlage. Fast 30 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt, viele werden bis heute vermisst, führt die marokkanische Menschenrechtsorganisation AMDH in einem der wenigen existierenden Berichte aus. Obwohl Ambulanzen vor Ort waren, sei eine medizinische Versorgung spät oder gar nicht erfolgt. Vielmehr seien Körper von Toten, Sterbenden und Schwerverletzten achtlos aufeinander geworfen worden. Die wenigen, denen es gelang, die Grenzzäune zu überwinden, wurden von spanischen Grenzbeamten direkt wieder nach Marokko zurückgeschoben. Was an diesem 24. Juni vor den Toren Melillas im Namen und mit Mitteln der europäischen Migrationsabwehr geschah, war eine neue Eskalationsstufe der Migrationsabwehr: Es war ein Massaker.

Die Brutalität und Entrechtung an der Außengrenze der EU ist allerdings längst so alltäglich geworden, dass selbst dieser Skandal kaum mehr Beachtung fand als ein kurzes Empörungsrauschen in den sozialen Medien. Schnell war auch das wieder verebbt. Stattdessen lobte Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez, der einer Mitte-Links-Regierung vorsteht, die „außergewöhnliche Arbeit unserer Sicherheitskräfte“. Es sei um einen „gewaltsamen Angriff auf die territoriale Integrität Spaniens“ gegangen, der durch „koordinierte Zusammenarbeit“ mit den marokkanischen Sicherheitskräften abgewehrt werden konnte.

Der nur wenige Tage nach Melilla in Madrid stattfindende NATO-Gipfel wurde von der spanischen Regierung dazu genutzt, Migration als Bedrohung der nationalen Sicherheit und damit als Aufgabengebiet der NATO darzustellen. Außenminister José Manuel Albares forderte das Bündnis auf, sein Betätigungsgebiet zu erweitern, um auch auf nichtmilitärische Bedrohungen wie die „illegale Migration“ reagieren zu können. Damit stimmt er in den sich verschärfenden Versicherheitlichungsdiskurs ein, der Fliehende primär als Sicherheitsproblem darstellt. Die Bezeichnung von Migration als „Waffe“ stellt dabei eine verbale Zuspitzung dar, die bereits im März 2020 an der griechisch-türkischen Grenze und im Herbst 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze zur Anwendung kam. Fliehende gelten als „hybride Bedrohung“ und gefährliche Masse, die von autoritären Regimen eingesetzt wird und folglich mit allen Mitteln abgewehrt werden muss. Die Gewalt an der spanisch-marokkanischen Grenze steht paradigmatisch für die Brutalisierung des europäischen Grenzregimes, das Menschen nicht mehr nur passiv „sterben lässt“. Längst gibt es auch Praktiken, die aktiv töten.

An den europäischen Grenzen, die weit bis in die Sahelzone vorverlagert sind, werden zugleich auch die Grenzen des Rechts ausgehandelt: Welche Menschen werden als Rechtssubjekte anerkannt und welche können straflos getötet werden? Verantwortlichkeiten werden dabei auf bizarre Weise verkehrt. Dies zeigt sich auch in der juristischen Aufarbeitung der Ereignisse von Melilla: Nicht die marokkanischen Sicherheitsbehörden oder ihre spanischen Kolleg:innen werden vor Gericht gestellt und für die Todesfälle zur Rechenschaft gezogen. Angeklagt wurden vielmehr 65 derjenigen, die das Massaker überlebt haben. Die Vorwürfe reichen von Bildung einer kriminellen Vereinigung über Schleuserei bis hin zu Androhung von Mord.

Das Grundrecht auf Asyl ist zunehmend in eine Maschinerie der Abschottung, Zermürbung, Kriminalisierung und Inhaftierung verkehrt worden. Nicht einmal die Gerichte scheinen diesem Trend noch etwas entgegenzusetzen. Während 2017 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewaltsame Pushbacks an der marokkanisch-spanischen Grenze noch verurteilte und Spanien der Kollektivausweisung für schuldig sprach, wurde diese Entscheidung im Februar 2020 von der Großen Kammer des EGMR revidiert: Sie wollte in den Pushbacks keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr feststellen. Damit passt sich die Rechtsprechung der repressiven europäischen Migrationspolitik an und schafft so die juristische Grundlage für Gewaltexzesse wie den am 24. Juni.

Auch im Ägäischen Meer werden Tag für Tag Pushbacks durchgeführt. Welcher Gewalt Fliehende dabei ausgesetzt sind, wurde uns bei einer Dienstreise auf die griechischen Inseln im August einmal mehr deutlich. Aktivist:innen aus der Seenotrettung und Menschenrechtsanwält:innen des Legal Centre Lesvos, das Geflüchtete juristisch verteidigt, berichteten uns, dass seit März 2020 Pushback-Praktiken der griechischen Küstenwache zur Norm geworden sind, und zwar nicht nur von Booten auf offener See, sondern auch von Menschen, die es bereits auf die Inseln geschafft haben: Unter Missachtung ihres Rechts, einen Asylantrag zu stellen, werden sie festgenommen und anschließend in Rettungsinseln aus Plastik auf dem offenen Meer ausgesetzt. Überlebende berichten dabei von massiver Gewalt, von Schlägen, Morddrohungen und Folter. Immer wieder gibt es Berichte von Leichen, die an der türkischen Küste angeschwemmt wurden – mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen.

Auf dem offenen Meer ausgesetzt

Diese Politik der Abschreckung führt keineswegs dazu, dass die Zahl der Fliehenden geringer wird. Sie lässt nur die Fluchtrouten über das Meer länger und damit noch gefährlicher werden. Inzwischen umschiffen immer mehr Boote aus der Türkei die griechischen Inseln und steuern auf das viel weiter entfernte Italien zu. Diejenigen, die es dennoch auf die griechischen Inseln schaffen, sind mit Kriminalisierung konfrontiert. Von fast jedem ankommenden Boot werden einige Menschen willkürlich festgenommen und der Schleuserei bezichtigt. Oft trifft der Vorwurf diejenigen, die die Steuerpinne des Schlauchboots gehalten haben. Der Schleuserei angeklagte Menschen bilden inzwischen die zweitgrößte Gruppe an Inhaftierten in Griechenland. Einer Studie von bordermonitoring.eu zufolge dauern die Prozesse, die oft erst nach monatelanger Untersuchungshaft beginnen, in Einzelverfahren im Schnitt 27 Minuten. Vieles wird nur unzureichend übersetzt und eine rechtliche Verteidigung ist nur eingeschränkt gewährleistet. In den 48 untersuchten Urteilen zum Straftatbestand der Schleuserei beträgt die Haftstrafe durchschnittlich 48 Jahre, von denen mindestens 19 Jahre abgesessen werden müssen.

Lager wie Hochsicherheitsgefängnisse

Neben der Grenzgewalt gewinnen Lagerkomplexe und Verwaltungshaft zunehmend Bedeutung im europäischen Grenzregime. Das wird an den EU-finanzierten Sammellagern deutlich, die gerade auf den griechischen Inseln gebaut werden: sogenannte Closed Controlled Access Center (CCAC). Der Name ist Programm. 276 Millionen Euro hat die EU in die Hand genommen, um mehrere dieser an Hochsicherheitsgefängnisse erinnernde Einrichtungen zu bauen. Bereits im letzten Herbst wurde das erste CCAC auf Samos eröffnet. Kostenpunkt 43 Millionen Euro. Als wir an einem heißen Augusttag dieses Jahres dort hinfahren, stehen wir mitten im Nirgendwo auf einmal an meterhohen doppelten Zäunen, die Dutzende von weißen Containern einschließen. Eine mit NATO-Draht geschützte Straße für Fahrzeuge von Polizei und privaten Sicherheitskräften umgibt das Areal. Auf Samos ist G4S für die Überwachung zuständig, eines der größten Sicherheitsunternehmen der Welt, das für Menschenrechtsverletzungen vielfältiger Art bekannt ist. Kameras haben jeden Winkel des Lagers im Blick, die Aufnahmen laufen in einem zentralen Überwachungszentrum in Athen zusammen. Zudem gibt es Drohnen, die Menschenansammlungen kontrollieren und mittels künstlicher Intelligenz analysieren. Der Ein- und Auslass wird in einer Sicherheitsschleuse über Chipkarten reguliert.

Die Closed Controlled Access Center sind ein technisches Experiment. Ihr Vorbild sind Hotspot-Lager wie Moria, sie aber sollen nun „sauberer“ und besser kontrolliert sein. In ihrer dystopischen Sicherheitsarchitektur verdichtet sich die Brutalisierung des Grenzregimes auch innerhalb Europas. In solchen Laboren erprobt, können diese Techniken der Migrationskontrolle anschließend externalisiert werden. Bereits jetzt gibt es Forderungen, ähnliche Sammellager etwa auch in Nordafrika zu bauen.

So rigide das Innenleben des Lagers überwacht wird, so wenig soll außen davon wahrnehmbar werden. Als wir das CCAC von der Ferne fotografieren wollen, wird das von der Polizei sofort unterbunden. Die Begründung: Fotografieren sei nicht erlaubt, da die Menschenrechte in dem geschlossenen Zentrum gewahrt werden müssten. Überall in Europa wird die Möglichkeit, über die europäische Abschottungspolitik zu berichten, immer weiter eingeschränkt. In Polen wurde das Grenzgebiet zu Belarus auf einer Länge von 400 Kilometern und einer Breite von drei Kilometern für fast ein Jahr lang zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Auch für die griechisch-türkische Grenzregion am Evros-Fluss gibt es fast keine Genehmigungen für journalistische Berichterstattung mehr. Wer es trotzdem wagt, gerät ins Visier von Sicherheitskräften und Justiz, wird diffamiert, sogar festgenommen und angeklagt.

Ein reiner Abwehrkampf

Brutalisierung, Kriminalisierung, Normalisierung. Dass es gegen diese Entwicklungen in der europäischen Grenzpolitik auch vielerorts Widerstand gibt, erleben wir im Juli, auf dem Transborder Summer Camp in der Nähe von Nantes. 800 Aktivist:innen aus Europa sowie West- und Nordafrika, die sich gegen Rassismus und für Bewegungsfreiheit einsetzen, sind zusammengekommen. „Auf diesem Camp gibt es eine Idee von Solidarität und Widerstand, die es uns erlaubt, für unsere Freiheit zu kämpfen“, erklärt uns ein Menschenrechtsanwalt aus Ägypten. Auch wir sind als medico vor Ort, um mitzudiskutieren über gemeinsame Strategien im Kampf gegen das europäische Grenzregime. Einige transnationale Netzwerke können von den Erfolgen ihrer Arbeit berichten. So wird durch die Vernetzung von Seenotrettungsinitiativen mit dem Alarm Phone seit Jahren Druck auf die EU ausgeübt, Menschen aus Seenot zu retten. Das Alarm Phone-Netzwerk zieht sich bis in die Sahara, wo lokale Gruppen es trotz hochmilitarisierter Gebiete immer wieder schaffen, Fliehende und Abgeschobene vor dem Verdursten zu retten. Auch an den Stränden der griechischen Inseln können durch die gezielte Anwesenheit von Ärzt:innen und Anwält:innen Pushbacks verhindert werden. Und die von medico unterstützte Grupa Granica versucht, Menschen, die an der Grenze zwischen Polen und Belarus festsitzen, vor dem Verhungern zu retten.

Doch viele der Netzwerke sind in einem Abwehrkampf gefangen und einige müssen sich mit ihrer eigenen Kriminalisierung auseinandersetzen. Somit gewinnen Rechtskämpfe an Bedeutung, die Räume der Widerständigkeit zu erhalten und Grundrechte zu verteidigen versuchen. Auf dem Transborder Summer Camp schlossen sich mehrere Initiativen, die sich gegen die Kriminalisierung von Fliehenden als Schleuser einsetzen, zum „Captain Support“-Netzwerk zusammen. Das soll Angeklagten durch Öffentlichkeitsarbeit und juristische Unterstützung beistehen. So heterogen die verschiedenen Initiativen auch sind – in einem stimmen sie überein: Der Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine hat gezeigt, dass Europa in der Lage ist, sich in ein positives Verhältnis zu Flucht und Migration zu setzen. Menschen müssen nicht an der Grenze sterben oder über Jahre in Haftlagern festgesetzt werden. Eine gemeinsame Bewegung gegen das tödliche Grenzregime braucht eine antirassistische Ausrichtung, die gleiche Rechte für Fliehende aus allen Ländern einfordert.

(Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022.)

Kerem Schamberger und Valeria Hänsel sind bei medico für den Bereich Flucht und Migration zuständig, er in der Öffentlichkeits-, sie in der Kooperationsabteilung. Zusammen mit ihrer Kollegin Sabine Eckart nahmen sie im Juli 2022 an dem transnationalen Netzwerktreffen Transborder Summer Camp in Nantes teil. Im August machten sich die beiden auf Lesbos und Samos sowie in Athen ein Bild von der aktuellen Situation.