„Hallo, mein Freund, hier ist Alarm Phone.“

Vor sechseinhalb Jahren, im Oktober 2014, wurde das Netzwerk Alarm Phone – Watch the Med in der Absicht gegründet, Unterstützung und Rettung für Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer zu organisieren. (Beitragsfoto: sea-watch.org)

Eine Recherche von Anja Tuckermann

Anita ist seit der Gründung dabei, inzwischen sind es etwa 200 Menschen in etwa zehn Ländern in Europa und Nordafrika, die sicherstellen, dass das Alarm Phone rund um die Uhr erreichbar ist. Alle arbeiten allein von zu Hause aus, sie brauchen ein Telefon und einen Computer – und sind mit mindestens einer anderen Person verbunden, die auch gerade Dienst hat. Zum Beispiel mit Anita in einer deutschen Großstadt. Wie ist es, wenn jemand von einem Boot in Seenot anruft?

„In dem Moment denkt man gar nicht nach. Man versucht nur, so schnell wie möglich so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Die Fakten abfragen. Wie viele Leute, wie viele Männer, Frauen, Kinder. Die Nationalitäten. Ob es noch andere Probleme gibt“, sagt Anita.

Meistens sei nur die Stimme des Anrufers zu hören, sehr ruhig und konzentriert, niemand im Hintergrund. Aus welcher Zone im Mittelmeer der Anruf kommt, erkennt Anita sofort an der Vorwahlnummer. Ob vom östlichen Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland, dem zentralen Mittelmeer zwischen Libyen, Tunesien und Italien und Malta oder zwischen Marokko/Algerien und Spanien. Und damit auch in welcher SAR-Zone* sich das Boot befindet.

Wie trägt man solch eine Verantwortung für Menschen, die in Todesgefahr sind?

„Das Wichtigste ist, sich nicht stressen zu lassen, sich Zeit zu nehmen, zusammen zu überlegen, was der nächste Schritt ist.“ 

Die beiden Personen pro Schicht sind nicht unbedingt im selben Land, aber miteinander im Gespräch. Pro Meeresregion zu zweit am Telefon, zusammen mit Leuten, die sich auskennen und mit ihnen gemeinsam die Entscheidungen treffen. Anitas Schwerpunkt ist das südliche Mittelmeer vor Libyen. Dort, wo die meisten Menschen auf dem Meer in Gefahr geraten.

Sich nicht stressen zu lassen ist allein schon ein Kunststück.

„Durch ihren Anruf wird nicht automatisch ihre GPS-Position übertragen, die müssen sie vorlesen. Manchmal ist die Verbindung schlecht. Wir fragen immer wieder nach der Position, bei jedem Anruf. Die Leute sind manchmal unverständig und fragen, warum denn schon wieder? Helft uns doch, rettet uns.“

Auch das müssen die Mitarbeiter*innen von Alarm Phone am Telefon erklären – dass sie selbst nicht retten können, sondern Rettung anfordern.

„Wichtig ist das Kontakthalten, dass sie wissen, dass jemand da ist. Dass sie nicht vergessen werden. Und beruhigen – dass Rettung kommt, dass es soundsoviele Stunden dauern kann.“

Sie geben auch Anweisungen und Ratschläge, zum Beispiel, dass die Menschen auf dem Boot zusammenhalten müssen. Dass eine Person verantwortlich ist, dass alle sitzen bleiben.

„Manche denken, die Leute auf den Booten würden vielleicht schreien oder durcheinanderreden. Das kann passieren, man hört manchmal Stimmen im Hintergrund. Aber meistens sprechen wir mit einer Person und es ist total ruhig. Ich weiß nicht, wie viele Leute im Boot mitbekommen, dass eine Person telefoniert.“

Hamidou aus Westafrika harrte in Libyen aus, bis er mit anderen in einem Schlauchboot auf das Mittelmeer hinausgeschickt wurde. Das war im Januar 2021 und ohne Telefon. Die Verwandten riefen sich angstvoll gegenseitig an, als sie nichts mehr von ihm hörten, seine Frau mit dem Baby, seine Mutter, sein Bruder. Der Bruder ging nicht mehr ans Telefon, weil er selbst vor Angst nicht mehr schlafen, essen und kaum noch arbeiten konnte. Sie kontrollierten die Twitter-Meldungen der Seenotrettungsorganisation und immer wieder von Alarm Phone. Nichts. Schließlich rief der Bruder beim Alarm Phone an und fragte nach dem Schlauchboot, sagte, welche Farbe es hatte, in welcher Nacht es auf das Meer geschickt wurde, wie viele Menschen darauf waren. Alarm Phone hatte selbst keinen Kontakt zu dem Boot gehabt, wusste durch den Anruf aber, dass es auf dem Meer sein musste oder war. Wie viele Menschen gehen mit ihren Booten unter, ohne dass es je jemand erfährt? Nach drei Nächten und drei Tagen erfuhr Alarm Phone von einer anderen Organisation, dass das Boot gefunden worden und Hamidou und die anderen Überlebenden nach Lampedusa gebracht würden und benachrichtigte die Verwandten. Später sagt Hamidou: „Ich hatte so schreckliche Angst, ich konnte nichts essen vor Angst, ich habe die meiste Zeit mein Gesicht in den Händen gehalten und gebetet.“ Niemand habe viel geredet, denn alle hatten die gleiche Todesangst. Einmal sei ein Handelsschiff in der Nähe gewesen – in der Hoffnung auf Rettung sei das Boot darauf zugefahren und als es näherkam, sei das Handelsschiff weitergefahren. Dann habe es wieder gewartet – kam das Boot wieder näher, sei es wiederum weitergefahren. Nach zwei Stunden gaben sie mit dem Boot auf, hatten die Hoffnung und ihre Richtung verloren. Bevor das große Schiff schließlich wegfuhr, ohne sie zu retten, warf die Mannschaft ihnen noch einen Kanister mit Treibstoff zu. Sie wussten nicht, wo sie waren, waren verzweifelt, die Wellen stiegen bis zu zwei Metern auf. Sie hatten nichts mehr zu essen und zu trinken. Nach den schrecklichen drei Nächten und Tagen, trafen sie auf einen italienischen Versorgungsfrachter, der sie zum Glück aufnahm und nach Lampedusa brachte. Wenige Wochen nach der Rettung, nachdem er schließlich ein Handy hat, ruft Hamidou alle seine Bekannten an, telefoniert tagelang, wie um sicher zu sein, dass er noch lebt und das allen mitzuteilen. Wäre Alarm Phone nicht gewesen, hätten seine Frau, seine Mutter und Geschwister noch viele Wochen um ihn zittern müssen, bis sie eine Nachricht erhalten hätten. Hamidou sprach nicht mehr darüber, wie ein libyscher Polizist ihm mit dem Gewehrkolben fast die Zähne ausgeschlagen hatte und was sonst mit ihm geschehen war. Niemand kann sich vorstellen, wie schlimm es ist, zu so vielen auf einem kleinen Boot so lange zu überleben. In diesen Januartagen gab es noch ein anderes Boot, dass mehrere Tage und Nächte ohne Telefon unterwegs war und von dem man nur erfuhr, weil die Menschen kurz vor Lampedusa zufällig gefunden und gerettet wurden.

Anita sagt: „Drei Viertel aller Boote in Seenot rufen uns an. Die Menschen wissen oft nicht, was das für eine Nummer ist. Manche glauben fälschlich, dass wir mit Frontex zusammenarbeiten. Wir erklären, wer wir sind und was wir machen.  Die Italiener melden die Position des Boots der libyschen Küstenwache weiter, wenn wir in der libyschen Rettungszone melden. Die Leute haben Angst, nach Libyen zurückgebracht zu werden.“

Wenn etwa Wasser in das Boot läuft, geht es um sofortige Lebensrettung. Nicht selten aber treiben die Boote in Seenot stundenlang, tage- und nächtelang auf dem Meer, weil der Motor kaputt oder der Treibstoff ausgegangen ist, ohne dass jemand zu ihrer Rettung kommt. Während dieser Ostertage 2021 gab es wieder eine solche Situation. Drei Boote mit insgesamt etwa 270 Menschen waren seit Gründonnerstag in der maltesischen Rettungszone ohne Hilfe auf dem Meer. Die Behörden in Malta sind durch Alarm Phone informiert und tun nichts. Am Karfreitag verschlimmert sich die Situation, in ein Boot dringt Wasser ein, der Motor funktioniert nicht mehr. Die maltesische Küstenwache legt auf, wenn Alarm Phone am Telefon ist. Es sind Handelsschiffe in der Nähe zweier Boote, Alarm Phone benennt sie auf Twitter, aber sie retten nicht. Das Suchflugzeug Moonbird der Seenotrettungsorganisation Sea Watch findet die drei Boote und veröffentlicht Fotos, auf dem auch die Handelsschiffe zu sehen sind. Am Ostersamstag sind auf einem Boot die Menschen in Panik, zwei sind bewusstlos, der Kontakt zu einem anderen Boot reißt ab. Die maltesische Küstenwache erlaubt dem Tanker Nordic Star nicht, die Menschen zu retten und schickt ihn weg, beobachtet von Moonbird. Am Ostersonntag spricht Papst Franziskus in seiner Ansprache allgemein von der „Heiligkeit des Lebens“. Der italienische Priester Don Matia spricht im Internet von der gesetzlichen Pflicht auf See zu retten. Nichts. Am Ostermontag scheint die italienische Küstenwache alle drei Boote gefunden zu haben. Zwei Boote wurden nach Lampedusa gebracht, von dem dritten wird angenommen, dass es in Sizilien angekommen ist, die maltesische Küstenwache hat ihnen vermutlich Benzin gegeben, damit sie weiterfahren können, nachdem sie viele Stunden in der maltesischen SAR-Zone trieben.

Die Situation für die Bootsflüchtlinge durch den fehlenden Willen der europäischen Staaten zur Seenotrettung hat sich drastisch verschlimmert. 2018 waren weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht, Anfang 2021 sind es schon 8o Millionen. Die staatliche europäische Seenotrettung wurde quasi eingestellt, die Handelsschiffe fahren fast immer vorbei ohne zu retten oder weichen aus, damit sie nicht retten müssen. Die Behörden Italiens, Maltas und Griechenlands be- und verhindern private Seenotrettung und kriminalisieren die Retter, mit Duldung oder sogar Unterstützung des deutschen Innenministers und des politischen Europas. Und die zuständigen Seenotleitstellen in den Anliegerstaaten Malta, Italien und Libyen sind allzu oft einfach für Alarm Phone gar nicht mehr zu sprechen, wie Anita berichtet: „Malta geht seit einem Jahr nicht mehr ans Telefon. Oder sie heben ab und lachen. Oder sie können nichts sagen, geben keine Infos, ob die Leute, die mit uns in Kontakt waren, gerettet sind. Das MRCC Rom geht ans Telefon, sie nehmen die Daten auf und dann nichts. Auf Nachfragen von Alarm Phone geben sie keine Informationen raus. Die sogenannte libysche Küstenwache hat acht Telefonnummern, auf denen niemand antwortet. Dann rufen wir in Italien an und sie rufen in Libyen an. Früher war die italienische Seenotleitstelle für das Zentrale Mittelmeer freundlich und gut. Aber sie haben Anweisungen von oben und haben sich geändert. Sie wimmeln ab, informieren nicht. Ein paar Ausnahmen gibt es, einzelne sind freundlich zu uns. Früher war auch die griechische Küstenwache am Telefon hilfsbereit, aber auch das hat sich geändert. Verantwortlich ist die neue Regierung, die entsprechend anweist. Das Salvamento Maritimo in Spanien hat mich überrascht, sie sind am Telefon total freundlich, das ist eine andere Welt. Sie suchen tatsächlich nach Booten in Seenot und geben uns Informationen über ihre Aktivitäten und Ergebnisse.“

Wie verarbeitet Anita das, was sie hört und erlebt?

„Viele Fälle sind total schrecklich, aber es gibt auch gute Erlebnisse. Nämlich, wenn sich Leute noch mal melden. Aber die Lage auf dem Mittelmeer hat sich insgesamt verschlimmert. Das ist psychisch nicht einfach für uns – wir sind oft traurig und vor allem auch sauer. Wenn ich etwas Schlimmes miterlebe, dann erzähle ich es jemand anderem von Alarm Phone, denn nur sie wissen, worum es geht.

Jedes halbe Jahr gibt es ein Netzwerktreffen, immer in einem anderen Land und dieser persönliche Austausch der Leute, die sich in den Monaten dazwischen nur am Telefon hören, unterstützt sehr.“

Während der Pandemie war das letztes Jahr nicht möglich, dieses Jahr werden sie sich voraussichtlich wieder nur per Videokonferenz sehen können. 

„Worüber ich nicht hinwegkomme, das war letztes Jahr zu Ostern, vier Boote waren auf dem Meer, die Motoren kaputt. Die Leute sind verdurstet, nicht ertrunken. Malta hat sie nicht gerettet, aber private Boote gechartert und, ohne dass man sie tracken konnte, hat man heimlich ein Boot nach Libyen zurückgebracht. Sie hatten kein Wasser, nichts mehr zu essen. Wir hatten noch Kontakt zu einigen Menschen. Als sie auf dem Meer trieben, sind ein paar ins Wasser gesprungen, weil sie keine Hoffnung mehr hatten, andere sind auf dem Weg zurück nach Libyen verdurstet. Wir haben alles getan, was wir konnten. Es waren mehrere Tage, es war so brutal zu sehen, dass niemand kommt. Total krass – das kann ich nicht vergessen.“

Mit am Telefon war an diesem Wochenende Diana aus Großbritannien. Im Interview mit der Journalistin Lucy Proctor für BBC-Radio sagt sie, sie hätten die Menschen an Bord des Bootes, das auch Anita meint, alle zwanzig Minuten zu erreichen versucht. Aber umsonst. Es sei besonders dramatisch gewesen, weil ihre Verwandten bei Alarm Phone anriefen und nach ihren geliebten Familienangehörigen fragten. Nach fünf Tagen hat MRCC Malta offenbar ein Fischerboot zur Rettung geschickt, das nicht getrackt werden konnte und ohne sichtbaren Namen 51 Menschen und fünf Leichen nach Libyen zurückbrachte. Diese fünf sind verhungert und verdurstet. Die Überlebenden berichteten Alarm Phone von weiteren Menschen, die von Bord gesprungen waren, drei, weil sie zu einem Frachter schwimmen wollten. Und vier, weil sie so verzweifelt waren. Alle sieben ertranken. Die anderen wurden in ein offizielles Gefängnis gebracht, wo sie, wie in Europa lange bekannt ist, Gewalt jeder Art ausgesetzt sind. Die maltesische NGO Repubblika hat Maltas Premierminister Abela wegen des illegalen Pushbacks angezeigt. Er gab zu, private Boote zu koordinieren, um Migrant*innen nach Libyen zurückzubringen. Die Weigerung zu retten oder verspätete Rettungsaktionen sowie illegale Pushbacks finden weiter statt, auch in der Ägäis. In einer Reportage von Februar 2021 zeigt Al Jazeera, wie die griechische Küstenwache und schwarz maskierte Männer in der Ägäis Menschen auf kleinen Schlauchbooten mit Stöcken schlagen und zurückstoßen. Es wird vermehrt von Pushbacks durch die griechische und libysche Küstenwache berichtet, auch tatenlos beobachtet von Frontex – der europäischen Grenzschutzagentur, die jüngst sogar bewaffnet wurde – und mit Duldung der versammelten europäischen Regierungen. Nicht wenige dieser illegalen Pushbacks sind inzwischen vielfach dokumentiert und im Internet zu finden.

Alarm Phone ist für diese Dokumentation inzwischen zu einer unverzichtbaren Einrichtung geworden. Giorgios Christides vom Magazin Der Spiegel erläutert gegenüber Al Jazeera, dass ihre sehr gut recherchierten Reportagen ohne NGOs und Netzwerke wie Alarm Phone nicht möglich gewesen seien. Sie und andere (zum Beispiel auch Sea Watch mit ihrem Flugzeug Moonbird) würden Beweise und Zeugnisse von Migrant*innen sammeln, mit den Journalist*innen zusammenarbeiten, die diese Informationen dann verifizieren und veröffentlichen könnten. Auch die BBC und die New York Times nehmen Informationen von Alarm Phone als Anlass für Reportagen.

Über die Jahre hat sich die Arbeit von Alarm Phone also sehr erweitert. Neben dem Telefondienst werden die Social Media-Kanäle bedient, alle Meldungen werden in zwei oder drei Sprachen übersetzt, es gibt Pressearbeit, die Zusammenarbeit mit anderen NGOs und auch öffentliche Podiumsrunden. 

Anfangs hatte Anita am Telefon nur mit den Menschen auf den Booten und denen bei den Seenotleitstellen und den Küstenwachen zu tun. Inzwischen melden sich aber immer öfter auch Leute, die ihre Verwandten suchen. „Sie fragen – das Boot ist nirgends angekommen, das Boot ist nicht zurück in Libyen. Wo können sie sein? Wisst ihr was? Monatelang fragen die Verwandten, unsere Brüder und Schwestern, unsere Töchter und Söhne sind nicht da. Wir müssen dann sagen: Habt ihr überlegt, dass sie untergangen sein könnten? Viele haben trotzdem noch Hoffnung, auch ein Jahr später noch. Die Familien aus dem Sudan wollen bis heute nicht hören, dass die Verwandten ertrunken sind. Sie fragen wieder und wieder, finden immer wieder mögliche Hinweise, vielleicht war es dieses Boot oder dieses und wollen wissen, welche Infos wir dazu haben. Ich gebe ihnen auch die Nummer der libyschen Küstenwache.“

Zum Glück geben oftmals auch Verwandte Bescheid, wenn sie wissen, dass Schiffbrüchige irgendwo angekommen oder gestrandet sind. Oder wenn sie Nachricht bekommen haben von einer Rettung. Manchmal erfährt Alarm Phone erst durch Anrufe verzweifelter Verwandter von einem verschwundenen Boot und kann danach suchen lassen, so wie im Fall von Hamidous Boot.

Was könnte den Ehrenamtlichen von Alarm Phone bei ihrer Arbeit helfen? Natürlich Spenden. Aber noch mehr als das. 

„Was uns helfen würde, wäre auch, wenn die Geretteten anderen erzählen, was auf sie zukommt, was zum Beispiel Alarm Phone macht und nicht macht“, sagt Anita. „Dass sie uns vertrauen und wissen, welche Möglichkeiten wir haben. Für uns ist es auch gut, im Nachhinein zu hören, wie es ihnen auf dem Meer ergangen ist. Positive Rückmeldungen tun uns auch gut. Und wir haben den 9. Februar, als CommemorAction – solche Aktionen helfen unsere Trauer und Wut zu lokalisieren.“

Der europaweite Aktionstag findet seit einigen Jahren statt, immer an einem anderen Datum. Dieses Jahr wurde an ein Bootsunglück am 9. Februar 2020 erinnert, bei dem 91 Menschen starben, die meisten aus Darfur im Sudan. Die libysche Küstenwache hatte eine Rettung abgelehnt mit dem Argument, dass die Gefängnislager in Libyen voll seien. Von den 91 Menschen fehlt jede Spur. Mithilfe von Freunden und Angehörigen hat Alarm Phone von 62 Menschen die Namen ermittelt und Fotos zusammengetragen, in vielfältigen Aktionen überall in Europa wurden die Porträts dieser Menschen gezeigt und ihre Namen genannt. Inzwischen gibt es auch ein Video über die sudanesischen Familienangehörigen, die in ihrer Trauer keinen Frieden finden, umso mehr als dass sie nie eine Leiche gesehen und ihre verlorenen Liebsten nicht bestatten können.

*SAR = Search and Rescue (Suche und Rettung) für Luft- und Seerettungsdienste.


Ich habe im Februar 2021 mit Anita und Hamidou gesprochen und seitdem kommen immer weiter immer mehr Fluchtboote auf das Meer, in diesem Jahr sind in den ersten drei Monaten schon mehr als dreitausend Menschen nach Libyen zurückgebracht worden und fast 300 im Meer ertrunken. Jedes Mal dachte ich, das muss noch mit in den Artikel und das jetzt auch noch… So verging die Zeit bis nun, Ostern, und das Unfassbare geschah wieder: Europäische Behörden lassen Menschen in Seenot tagelang hilflos auf dem Meer treiben, obwohl das Seerecht sie zur Rettung verpflichtet und sie ihre Position kennen. Niemand in den Regierungen kann sagen, er oder sie habe es nicht gewusst. Im Gegenteil. Der jüngste Skandal ist vor wenigen Tagen bekannt geworden: das Abhören der Telefone von investigativen Journalisten durch Ermittler in Sizilien, um mit den Informationen Seenotretter von NGOs wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Schleusern anzuklagen, laut einiger Anwält*innen bisher der massivste Angriff auf die Pressefreiheit in Italien überhaupt und illegal.

Alarm Phone schreibt in seiner Selbstdarstellung: Internationale Organisationen, sowie auch Politiker_innen aus allen politischen Spektren haben Schlepper als die Ursache der tödlichen Überfahrten ausgemacht. ‚Menschenschmuggler’ existieren nur so lange auch das Grenzregime existiert, welches Geflüchtete und Migrant_innen davon abhält, andere Länder auf legale Weise zu betreten und sie so zwingt geheime, teure und gefährliche Wege in Kauf zu nehmen. Schleppernetzwerke wären sofort Geschichte, wenn die Menschen die gerade beim überqueren des Mittelmeers sterben, Europa auf legalem Weg erreichen könnten. Das Visa-Regime, welches legale Wege verhindert, wurde erst vor 25 Jahren installiert.

Man müsste noch viel sagen, zum Beispiel wieviele Millionen Euro Libyen erhält, um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten und vor ihrer Küste abzufangen. Mit welchen Erpressungen die EU arbeitet, um afrikanische Länder dazu zu bewegen, Flüchtlinge zurückzuhalten. Wie ein Lager wie erst Moria und nun Kara Tepe in Griechenland und das Frieren von Menschen in Bihac von der deutschen Regierung mit eiskaltem Schweigen oder scheinheiligem Mitgefühl und 151 offiziell nach Deutschland geholten Minderjährigen geduldet wird, obwohl sich 241 deutsche Städte bereit erklärt haben, freiwillig noch mehr Geflüchtete aufzunehmen.

NGOs wie Sea Watch, Space Eye, Repubblika, Open Migration und UNITED for Intercultural Action und insbesondere Alarm Phone sind unsere Augen für das, was die Regierungen totschweigen oder verheimlichen möchten. Und ihr Engagement kann Leben retten.


Wer spenden möchte, bitte auf folgendes Konto:

Forschungsgesellschaft Flucht & Migration, Sparkasse der Stadt Berlin
IBAN: DE68 10050000 0610024264
BIC: BELADEBEXXX
Verwendungszweck: Watchthemed Alarm Phone