Eine Gruppe von zurückgewiesenen Eritreern hat erstmals in einem Gerichtsverfahren gegen Italien gewonnen.
Aktuelle Recherchen einer Gruppe europäischer Medien, zu der auch der SPIEGEL gehört, belegen, dass EU-Beamte an illegalen „Pushbacks“ vor der griechischen Küste beteiligt sind: Flüchtlinge werden zurück auf’s Meer gebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 2012 einstimmig das Verbot einer Zurückweisung an der Grenze oder einer Abschiebung bekräftigt, wenn die betroffene Person dadurch dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Folter ausgesetzt wird. Den Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ist untersagt, Schutzsuchenden den Zutritt zu ihrem Hoheitsgebiet zu verweigern. Damit verurteilte das Gericht Italien, das Flüchtlinge auf hoher See blockiert und mit einem Marineschiff nach Libyen zurückgebracht hatte.
Zum ersten Mal hat nun in diesem Zusammenhang ein Zivilgericht in Rom geurteilt, dass für die Betroffenen einer Abweisung, die sich nicht auf italienischem Boden befinden, das Recht auf ein Einreisevisum besteht, um anschließend einen Schutzstatus zu beantragen – ein Urteil, das aufgrund der Beschwerde einiger eritreischer Staatsbürger gesprochen wurde, nachdem diese im Jahr 2009 von der italienischen Militärmarine nach Libyen abgewiesen wurden. Die Journalistin ELEONORA CAMILLI traf am Flughafen Fiumicino in Rom die erste Gruppe der mit einem Visum Eingereisten und berichtete darüber in dem italienischen Online-Magazin Open Migration. Ihr Artikel wurde am 3. September 2020 veröffentlicht – wir danken der Autorin und der Plattform für die Genehmigung, den Text zu übernehmen, und RENATA FRIES für die Übersetzung aus dem Italienischen:
„Eine Narbe“, wiederholt er, „eine große Wunde“. Jener 1. Juli 2009 ist für H.* eine unauslöschliche Erinnerung: Am 29. Juni, drei Tage zuvor, verließ er die libysche Küste zusammen mit 88 anderen Personen an Bord eines überfüllten Schlauchbootes. Alle waren Eritreer, 75 Männer, neun Frauen und drei Kinder. Die Schlepper, die die Überfahrt organisiert hatten, begleiteten sie für einige Meilen, um sie dann auf hoher See zurückzulassen – mit zu wenig Trinkwasser und zu wenig Essen. Auch das Benzin war nicht ausreichend und so stand der Motor nach drei Tagen still. Den Schiffbrüchigen gelang es noch, ein SOS zu senden. Erschöpft vor Hunger und von der Sonnenhitze warteten sie noch Stunden. Erst am Nachmittag des 1. Juli, es wurde schon Abend, kam Hilfe: zuerst durch einen Helikopter, dann ein Motorboot, bis sie endlich an Bord eines Militärschiffes gehen konnten. „Bald seid ihr in Italien“, wurde ihnen versichert, aber als der Morgen graute, erkannten die Migranten am Horizont die libysche Küste: Sie wurden in die Hölle, aus der sie geflüchtet waren, zurückgebracht.
Elf Jahre sind seit dieser von italienischen Autoritäten ausgeführten Zurückweisung vergangen, und nach einem langen juristischen Kampf und einem Urteil mit Präzedenzcharakter, kamen H.* und weitere fünf Migranten, die sich auf demselben Boot befanden, in Italien an. Sie landeten am späten Vormittag, am Sonntag, den 30. August, am Terminal 3 im Flughafen Fiumicino in Rom. Mit einem Lächeln auf ihren Gesichtern und dem Gefühl der ersten Reise mit einem regulären Visum. „Es ist das Ende eines Albtraums: Jetzt wollen wir nur als freie Menschen leben,” bestätigt H. „Nach vielen vielen schwierigen Fluchtversuchen, dem Gefängnis in Libyen, den Qualen in Sinai und den Jahren in Israel, jetzt mit dem Flugzeug regulär anzukommen, war schon ein starkes Gefühl.”
Die Rechtsanwälte Cristina Laura Cecchini und Salvatore Fachile, Vertreter der Asgi (associazione per gli Studi Giuridici sull’ Immigrazione) haben sie in Fiumicino empfangen und bis nach Rom begleitet, wo die fünf in Quarantäne bleiben mussten, bevor sie um Asyl bitten konnten. Es waren diese beiden Juristen, die Anklage gegen Italien erhoben, und Vertreter von Amnesty International, die die nötigen Dokumente dafür geliefert hatten.
Nach langjährigen Recherchen wurden sechzehn der von der damaligen Regierung unter Berlusconi abgeschobenen Migranten in Israel ausfindig gemacht und zwar von Mitarbeitern dieser internationalen Organisation.
Nach Israel kamen die Flüchtlinge, nachdem es ihnen gelungen war, aus Libyen zu entkommen und die Wüste Sinai zu durchqueren. „Es war eine schreckliche Reise: Für uns ist das Jahr 2009 ein Jahr, das man vergessen möchte, aber das ewig als Narbe in unserem Gedächtnis bleiben wird”, fügt ein Asylbewerber hinzu. „In Libyen hatten wir viele Probleme, sie haben uns gefangen gehalten. Wir wurden gefoltert und bedroht. Im Internierungslager, wo wir waren, gab es einen stetigen Menschenhandel, man lief jeden Tag Gefahr verkauft zu werden. Aber nach einem Jahr gelang es unserer Gruppe, im Sinai anzukommen. Auch hier war es nicht einfach: Wir haben Gewalt in jeder Form erlebt, aber dann sind wir in Israel angekommen.”
Allerdings war die Einreise in das Land wiederum eine kalte Dusche (zum x-ten Mal). „Wir glaubten, Israel sei ein demokratischer Staat, sie haben uns jedoch den Schutz verwehrt: Ohne Dokumente waren wir einmal mehr unsichtbar. Oft haben sie uns als Arbeitskräfte ausgenutzt: Sie ließen uns Handlangerarbeiten ausführen, aber es gab Leute, die uns nicht bezahlten, sie wussten, dass wir sie nicht verklagen würden. Im Gegenteil, ohne Dokumente riskierten wir, ohne Anklage im Gefängnis zu landen. Ich habe immer mit vier oder fünf anderenPersonen in einer Wohnung zusammengelebt, um die Kosten und das Essen zu teilen. Es war nie ein normales Leben.“
Auf der Suche nach Hilfe und Unterstützung nahmen H. und seine Kameraden Kontakt mit den Leuten von Amnesty International auf. „In Israel gibt es viele außergewöhnliche Leute, die sich um Flüchtlinge kümmern, es ist dort ein ernstes Thema. Die Flüchtlinge sind schutzlos und ständig besteht das Risiko in afrikanische Länder abgeschoben zu werden, mit denen Israel Abkommen geschlossen hat, so wie Uganda oder Ruanda“, erklärt Riccardo Noury von Amnesty International. „Und so haben wir, nach einer umfangreichen Untersuchung über das weitere Schicksal der 89 Zurückgewiesenen von 2009 und wo sie sein könnten und mit dem Wissen, dass es diese Sinai-Route gab, unsere israelischen Partner gefragt, ob sie Kenntnis von Personen hatten, die aus dieser Zurückweisung kamen. Sie fanden diese sechzehn Eritreer, die sich alle in einem juristischen Niemandsland befanden.“ Mithilfe der Staatsanwaltschaft forderten die italienischen Anwälte Gerechtigkeit für die abgewiesenen Migranten.
Von den anderen Frauen und Männern, die sich an Bord des Schlauchbootes befanden, gibt es nur fragmentarische Nachrichten: Man weiß nur, dass einige bei einem wiederholten Fluchtversuch über das Meer ihr Leben verloren haben. Anderen ist es gelungen, die italienische Küste zu erreichen und von da in nördliche Länder Europas zu gelangen. Nur diese sechzehn Personen konnten ausfindig gemacht werden.
Der Fall wurde am 25. Juni 2014 aufgenommen: Die Antragsteller forderten die Anerkennung ihres Rechts, in Italien einzureisen, um internationalen Schutz und Schadensersatz zu erhalten. Fünf Jahre später, am 28. November 2019 erklärte das Zivilgericht in Rom mit einem noch nie dagewesenen Urteil (Nr. 22917), die Abweisung für illegal, ordnete die Ausstellung von Einreisevisa an, um den Zugang zum Ersuchen eines internationalen Schutzstatus zu gewähren, und verurteilte den italienischen Staat zu Schadensersatz in Höhe von 5.000 Euro für jeden Antragsteller.
Das Urteil bestätigt insbesondere, dass – um das Recht auf Asyl gewährleisten zu können – „eine Ausweitung der Anwendung des internationalen Schutzes notwendig ist, um diejenigen zu schützen, die sich außerhalb des Staates befinden und nicht die Möglichkeit haben, einen Antrag zu stellen, als Konsequenz eines von der italienischen Behörde regelwidrig ausgeführten Tatbestandes, nämlich die Einreise untersagt zu haben, mit der Folge einer kollektiven Abschiebung, und somit die konstitutionellen Prinzipien und die Rechte der europäischen Union verletzt zu haben.“
Den beiden Organisationen zufolge, die das Verfahren geführt haben, handelt es sich bei der Entscheidung um einen überaus wichtigen Präzedenzfall: Zum ersten Mal urteilt ein italienisches Gericht, dass nach einer Abweisung das Recht auf ein Einreisevisum und somit auf internationalen Schutz besteht, auch wenn der Antragsteller sich nicht auf italienischem Territorium befindet.
„Endlich kehrte man zum juristischen Grundsatz der Pflicht zum Schutz (Art. 10 der Verfassung) zurück“, unterstreichen die Anwälte Cecchini und Fachile. „Dieser Fall ist ein wichtiger Präzedenzfall: Die italienischen Behörden wurden zum ersten Mal gezwungen, eine Einreise zu garantieren, um zu einem Verfahren der Anerkennung des internationalen Schutzes zu gelangen, und dies nicht lediglich aus humanitären Gründen, sondern als Anerkennung eines Rechtes, das diesen Menschen legal zusteht. Offensichtlich gibt es Rückschläge gegen diese Prinzipien in allen Politikbereichen, die auf eine systematische Aushöhlung jener Schutzpflicht abzielen und in diesem historischen Moment sehr relevant sind.“
Für die beiden Anwälte könnte das gleiche Prinzip künftig auch auf „delegierte Zurückweisungen » angewendet werden, das heißt auf solche, die von der sogenannten libyschen Küstenwache im Mittelmeer betrieben werden, oder auf alle „versteckten Abschiebungen“: in den Flughäfen, in den Häfen oder an den Landesgrenzen zwischen Slowenien und Italien.
Pater Mussie Zerai, eritreischer Geistlicher und Gründer der Agentur Habesha, erinnert sich, dass im Jahr 2009, als Roberto Maroni italienischer Innenminister war, „die Zurückweisungen offensichtlich waren, während sie heute an Handelsschiffe oder geisterhafte Küstenwachen delegiert werden“.
„Mit diesem Urteil”, bestätigt Zerai, „wird Sinn und Wert der Justiz wiederhergestellt: Gewisse politische Richtungen wollen die Ansicht verbreiten, dass das Recht der Schwachen ein Recht sei, das man treten kann. Sie versuchen, das Recht zu ignorieren und es in ein Almosen zu verwandeln, das man geben oder verweigern kann. Aber Recht ist Recht und als solches soll es anerkannt werden. So schafft dieses Urteil Gerechtigkeit für alle die, die ihr Leben bei einer wiederholten Überquerung verloren haben oder in der Wüste Sinai gestorben sind. Hätte damals diese Abweisung nicht stattgefunden, wären keine Menschen gestorben.”
*Zum Schutz der Persönlichkeit schreiben wir den Namen nicht aus.