Wir leben in einer Zeit, in der europäische Politiker, das Gesicht zur Faust geballt, Flüchtende als „Touristen“ und Schutzbedürftige als „Menschenfleisch“ bezeichnen. In einer Zeit, in der Ehrenamtliche vor Gericht gestellt werden, weil sie Ertrinkende aus dem Wasser retteten, während Staaten ihrer Pflicht nicht nachkamen. In der Menschenwürde viel zu oft unwidersprochen als linker Kampfbegriff diffamiert wird.
Wir teilen eine Aussage, die häufig als populistisches Instrument missbraucht wird: In unserer Zeit geht es nicht länger um links oder rechts. Wir sind, und das ist furchtbar, an einem Punkt in der Debatte angekommen, an dem wir nicht mehr darüber reden, ob und wie die Integration schutzbedürftiger und neu angekommener Menschen in unserem Land gelingen kann. Europa diskutiert darüber, ob man Menschen leben oder sterben lassen soll. Das aber ist eine Frage, zu der man keine Meinung haben darf. Hier muss Gewissheit herrschen. In Wahrheit – und das ist unser Schluss – geht es heute um die Versicherung, dass ein Mensch von einem anderen als Mensch behandelt wird. Um die Herausforderung, ohne Angst aufeinander zuzugehen. Letztlich geht es allein darum, Mensch zu sein.
Die Liste.
Das europäische Netzwerk UNITED for Intercultural Action mit Sitz in Budapest stellt sich dieser Herausforderung jeden Tag. UNITED führt seit 1993 die Liste derjenigen, die auf der Flucht nach oder in Europa gestorben sind. Mit Stand vom 30. September 2018 dieses Jahres sind 35.597 Menschen auf der Liste verzeichnet, durch internationale Presse und Organisationen belegte Fälle. Die überwiegende Zahl der Toten ist namenlos geblieben, ein Umstand, der das unerlässliche Gedenken erschwert, wie Bernd Mesovic von Pro Asyl in seinem Text erklärt.
Der erste Eintrag in der Liste datiert auf das Jahr 1993. In diesem Jahr schränkten Vertreter von Union, SPD und FDP das Asylrecht in unserem Grundgesetz ein; seitdem gilt die Drittstaatenregelung, nach der nicht länger allein auf Grundlage der Fluchtgründe entschieden wurde, wer bleiben darf. Die Route, die die Menschen nach Deutschland genommen hatten, sollte fortan entscheiden, welches Land für das Asylverfahren zuständig ist. Durch Gesetz kann die deutsche Regierung seither auch bestimmen, welches Land sie als sicher einstuft. Es war der Beginn oftmals bigotter Debatten über angeblich sichere Herkunftsländer und der Gleichgültigkeit der nördlichen Staaten Europas gegenüber den südlichen: Kaum ein Asylsuchender kam zuerst in Deutschland an. Und es war der Beginn von Kettenabschiebungen, an deren Ende sich der Geflüchtete womöglich in dem Land wiederfindet, aus dem er geflohen ist.
Auf Anregung der türkischen Künstlerin Banu Cennetoğlu wurde die Liste ins Deutsche übersetzt und 2017 als Beilage des Berliner Tagesspiegel in voller Länge veröffentlicht. 2018 wurde sie vom britischen The Guardian gedruckt und erschien übersetzt in Italien und Spanien. Dieses Buch greift auf die Übersetzung für den Tagesspiegel zurück, für die Monate danach haben wir eine eigene Übersetzung veranlasst. Und wir haben uns auch erlaubt, einige Ergänzungen vorzunehmen, die wir im Zuge unserer Recherchen in Erfahrung bringen konnten.
In der Liste fehlen oft Namen und weitere Informationen. Wir haben geflüchtete Menschen aus Eritrea, Somalia, Guinea, Sierra Leone, aus Syrien, Irak und Afghanistan gesprochen, und sie haben uns die Namen ihrer Toten genannt. Andere Fälle haben wir über internationale Presseberichterstattung recherchiert. Wir haben unsere Eintragungen in die Liste gekennzeichnet. Zu manchen waren die Daten schon enthalten, bei anderen kam der Todestag noch gar nicht vor, was bedeutet, dass diese Fälle nicht mitgezählt sind.
Natürlich ist die Liste kein Dokument, das wissenschaftlichen Standards genügt. Sicher haben sich auch fehlerhafte Angaben eingeschlichen. Man kann darüber streiten, ob alle Menschen, die darin aufgenommen wurden, einzig und allein „aufgrund der restriktiven Politik der Festung Europas zu Tode kamen“, wie der Titel von UNITED es zu fassen versucht. Und doch sind wir davon überzeugt, dass der Versuch, das Massensterben festzuhalten, eine zwingende Notwendigkeit ist. Denn mit Sicherheit ist das wahre Ausmaß der Tragödie in dieser Liste nur gestreift. Die Dunkelziffer wird um mindestens ein Dreifaches höher geschätzt.
Viele Menschen, die auf der Flucht nach Europa verschwinden, werden nie gefunden. Für die Familien und Freunde bedeutet das blanken Horror: „Das Verschwinden ist so schmerzhaft; das Schmerzhafteste ist die Ungewissheit. Und gleichzeitig kann ich die Hoffnung nicht aufgeben.“ Sie habe nächtelang nicht schlafen können, als sie von unserem Buch hörte, sagte Jamila Alam. Sie sucht ihre Schwester Shafiqa Temori seit 1995. Die beiden Schwestern sind Nichten des früheren Premierministers von Afghanistan Fazal Haq Chaligyar, die Familie ist im ganzen Land bekannt. Sie haben alles versucht, um Shafiqa zu finden, doch Prominenz schützt in diesem Fall nicht vor der Ohnmacht. Nie wurde eine Leiche der jungen Frau gefunden. Vielleicht lebt sie noch. Wir haben Shafiqa Temori nicht in die Liste der Toten aufgenommen. Ihre Schwester Jamila und Mahbuba Maqsoodi, ihre Freundin seit der Jugend, haben uns ihre Geschichte erzählt. Sie kann stellvertretend gesehen werden für all die Menschen, deren Angehörige und Freunde keine Möglichkeit haben, zu trauern. Ihnen bleibt nur, traurig zu hoffen.
Wir wollen in einer Zeit leben, in der wir miteinander in Dialog treten und gemeinsam darüber nachdenken, was unser Mensch-Sein und -Bleiben ausmacht. Darüber, was das Beste ist für das Gemeinwohl, um einen aus der Mode gekommenen Begriff zu gebrauchen – und wie man ihm am nächsten kommt. Das Beste für uns Europäerinnen und Europäer. Und das Beste für die, die nicht das Glück hatten, in Frieden, Stabilität und Wohlstand auf die Welt gekommen zu sein. Bevor wir dies tun können, dürfen wir nicht vergessen, worüber wir eigentlich sprechen.
Verantwortung annehmen.
Wir sprechen über Leben, Gedanken und Gefühle einzelner Menschen. Das Politische ist privat, es ist persönlich. Nackte Zahlen schützen uns vor Nähe, die uns befällt, wenn wir Geschichten hören, die hinter ihnen stehen. Doch: Ohne Nähe, ohne Mitgefühl, Anerkennung und Respekt auch gegenüber Andersdenkenden und -lebenden erstarrt die Welt in Kälte. Das lebenswerte Leben aber ist warm, es ist voller Gefühle, die die Menschen teilen: Wünsche und Träume können uns einen, die Liebe kann es, und: die Hoffnung.
Hinter jedem Eintrag in dieser Liste stehen Menschenleben. Wer aufmerksam durch die Liste blättert, wird einige dieser Geschichten finden, wir haben sie aufgeschrieben. Es war nicht leicht, sie zu finden. Und es war nicht einfach, nach dem größten Schmerz zu fragen: nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Wir haben deshalb auch Geschichten aufgenommen, die sich recherchieren ließen ohne neuen Schmerz zu erzeugen, ohne Angehörige oder Freunde erneut mit ihrem Verlust zu konfrontieren.
Wir planten, mithilfe von Verwandten, Freunden und Bekannten über manche der Gestorbenen Porträts zu schreiben, die ausschließlich von ihrem Leben vor der Flucht erzählen. In den Gesprächen stellte sich jedoch schnell heraus, dass die traumatischen Erfahrungen im Heimatland und auf dem Fluchtweg zu übermächtig sind und berichtet werden müssen. Das haben wir hier versucht. Es kostete die Überlebenden viel Kraft, sich zu erinnern. Nicht nur, weil die Erinnerung schmerzhaft ist, sondern auch die Gegenwart mit der zermürbenden Angst vor Abschiebung, den Fallstricken der Bürokratie, die ihr Leben bestimmen, mit feh- lerhaften Entscheidungen von Ausländerbehörden und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Mit der Erfahrung hier, in Deutschland und Europa, angekommen zu sein, und doch keinen Schutz und keine Ruhe zu finden. Der Erfahrung, über ihr Leben immer noch nicht selbst bestimmen zu können.
Die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung ist es, die vielen den Rest gibt. „Krieg ist Krieg“, sagte eine Frau, die aus dem Kosovokrieg geflohen war. „Da weiß man, dass es gefährlich ist. Ich habe so viele schlimme Sachen erlebt. Aber am Schlimmsten war es in Deutschland – wie die Leute uns behandelt haben.“
Der Artikel 1 des Grundgesetzes sei an dieser Stelle einmal ausführlicher zitiert als gemeinhin:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unver- äußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemein- schaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Die Schicksale der Menschen, die in diesem Buch porträtiert werden, werfen Schlaglichter – mitsamt ihren Schatten – auf Debatten, die heute in unserem Land geführt werden. Weil wir uns seit Jahren mit diesen Diskussionen auseinandersetzen und weil wir durch unsere tägliche Arbeit mit Schutzsuchenden wissen, worüber wir sprechen, möchten wir an dieser Stelle explizit werden.
In seinem Beitrag für unser Buch bezeichnet Stephan Lessenich die „tödliche Gleichgültigkeit“ als „soziale Beziehung – eine Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Dass wir Mitverantwortung tragen für viele der Fluchtursachen auf unserem Planeten, dass unser Wohlstand, unser Konsumverhalten und unser Umgang mit den Ressourcen der Erde bittere Nebenwirkungen für andere hat, das hat der Münchner Soziologe in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ dargestellt. Auch der Text von Rolf Gössner nennt handfeste Fakten, die unsere Mitverantwortung für das Sterben Flüchtender untermauern: unsere Verantwortung für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen.
Wenn von den reichen Staaten die Wirtschaftsbedingungen diktiert werden und andere Staaten dadurch arm bleiben und Menschen sich zur Flucht gezwungen sehen, dann sind das Fluchtgründe, die politisch verursacht werden. Dann sind das Fluchtgründe, für die es Verantwortliche gibt, die man benennen kann. Armut ist kein individuelles Verschulden. Moustapha Diallo führt in seinem Text das Beispiel eines senegalesischen Dorfes an, dessen Existenzgrundlage zerstört wurde, weil die EU der Regierung des Landes Fangrechte für die dortigen Gewässer abgekauft hat. 48 verzweifelte Menschen aus diesem Dorf bauten ein Boot und stachen in See. Sie kamen nie in Europa an, das Dorf ist heute kollektiv traumatisiert.
Wenn hierzulande in höhnischer Selbstgerechtigkeit über den Unterschied zwischen „Wirtschafts“- und „Bürgerkriegsflüchtlingen“ geredet wird, wird allzu oft vergessen, dass kein Deutscher und keine Deutsche es sich erarbeitet hat, in Deutschland geboren worden zu sein. Unsere Nationalität ist nicht unser Verdienst, sondern ein Zufall.
Natürlich ist es wahr, dass Europa nicht alle Menschen aufnehmen kann, die Hunger leiden oder deren wirtschaftliche Situation niederschmetternde Perspektivlosigkeit hervorruft. Und es stimmt auch, dass es oft nicht die Ärmsten der Armen sind, die sich auf den Weg nach Europa machen. Es sind Menschen, die unseren Kontinent mit Hoffnung verbinden, mit dem Versprechen auf die goldene Mitte zwischen Sicherheit und Freiheit, die beiden Pole, an denen das menschliche Bedürfnis sich ausrichtet. Das macht die Anziehungskraft Europas aus. Die Sehnsucht nach unserem Kontinent ist zunächst einmal ein großes Kompliment. Wir müssen dabei helfen, dass diese Perspektive auch in anderen Teilen der Welt entsteht. Dafür müssen wir an uns arbeiten: an unserer Selbstsucht und am System der Entwicklungshilfe. Damit sie dort ankommt, wo sie ankommen muss. Wir gehören nicht zur Fraktion derer, die weltweit offene Grenzen fordert, auch wenn wir diese Idee – als Idee – grundsympathisch finden.
Auch in unserer heutigen Welt gelte, „dass es in den Peripherien und Zentren des Westens noch immer gefährlicher ist, schwarz zu sein als weiß“, schreibt der Politikwissenschaftler Lorenz Narku Laing über die besonders schwierige Situation schwarzer Geflüchteter, die sich am häufigsten als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnen lassen müssen.
Wenn wir auf Afrika schauen, müssen wir festhalten: Von dort kommen tausende Menschen, die nach den Maßstäben unseres Asylrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) Anspruch auf unseren Schutz haben: Weil sie politisch oder gesellschaftlich diskriminiert und verfolgt werden. Zum Beispiel, weil sie vor einer Umgebung fliehen, die ihren Glauben oder ihre Sexualität verdammt. Oder weil sie – wie das privat betriebene Mammutprojekt zu den „vergessenen Kriegen“ von Alexander Kitterer deutlich vor Augen führt – genauso wie die Menschen aus dem Nahen Osten versuchen, dem Krieg zu entkommen. Die Fluchtgründe vermischen sich, manche fliehen in erster Linie aus wirtschaftlicher Not und nehmen ihre Verfolgung vielleicht zunächst als weniger gravierend wahr. Diesen Menschen zu erklären, dass sie unserer Gesetzgebung nach die falschen Nöte spüren, ist nicht einfach. Manche werden erst auf der Flucht zu Verfolgten, Gefolterten, Vergewaltigten, Traumatisierten. Libyen ist dabei ein Dreh- und Angelpunkt der Erschaffung von Fluchtgründen. Nur findet dieser Horror im falschen Land und nicht im Herkunftsland statt, um im deutschen Asylverfahren standhalten zu können.
Die Gründe, aus denen sich die Menschen in dieser hier veröffentlichten Liste auf den Weg nach Europa gemacht haben, sind also breitgefächert. Dass wir ihren Tod nicht in Kauf nehmen dürfen, muss ganz unabhängig davon eine Selbstverständlichkeit sein. Und es gibt sehr konkrete Möglichkeiten, Leben zu retten.
Sterben verhindern.
„Zehn Tage auf dem Meer. Ich will mich nicht erinnern. Von Libanon nach Ägypten und dann nach Italien. Ich will nicht daran denken. Einer ist bei uns gestorben.“ Das hat der heute 16-jährige Mahmoud Juma, Schüler in Göttingen, über seine Flucht geschrieben.
Der junge Gambier Ali Mbengu ist im Mittelmeer ertrunken. Die 19-jährige Fatim Jawara, auch aus Gambia, ist ertrunken. Die Syrerin Suzan Hayider und ihre beiden Kinder sind ertrunken. Familie Kurdi ist ertrunken, das Bild des zweijährigen Alan hat die ganze Welt gesehen. Ibrahim Jabuti und Mahamed Sheik Abdillahi Shide aus Somalia sind ertrunken. Sara aus Syrien hat auf dem Meer ihr ungeborenes Kind verloren. Es wurde im Mutterleib zerquetscht, als eine große Welle kam und die im siebten Monat schwangere Frau zwischen zwei Booten eingeklemmt wurde. Sara hatte schon einen Namen ausgesucht für ihr Baby, für das sie den Weg nach Europa auf sich nahm: Es sollte Youssef heißen.
„Ein Raubtier namens Mittelmeer“ heißt ein Gedichtband des palästinensisch-syrischen Autors Ghayath Almadhoun, der kürzlich in deutscher Sprache erschien. „Die EU-Politik betrachtet das Meer als Verbündeten“, schreibt Heribert Prantl in seinem Beitrag in diesem Buch. Die Marburger Schülerin Helene Seipelt hat ein Gedicht geschrieben. „Wir gehören alle zusammen, auch wenn sie sich dagegen sträuben oder versuchen, sich zu wehren“, lässt sie das Meer sagen.
Die deutsche Diskussion über die Seenotrettung hat auch in traditionell besonnenen Medienformaten Züge angenommen, die unter die Haut kriechen. Sie wird auch von Politikerinnen und Politikern diskreditiert, die ihr eigenes Wertefundament als christlich bezeichnen. Eine andere letztmögliche Form der Rettung – das Kirchenasyl – steht mittlerweile auch am Pranger. Monika Hoenen von matteo hat das in einer Rede in München beschrieben. Pfarrerinnen und Pfarrer werden in Bayern mit Strafanzeigen gegängelt. Wir können diesem Umgang mit Rettern einen Satz des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland entgegensetzen. Heinrich Bedford-Strohm schreibt in seinem Beitrag für unser Buch ganz unmissverständlich: „Seenotrettung ist eine christliche und humanitäre Pflicht.“ Mit dem Text der Historikerin Angela Hermann kann man hinzufügen: Es ist eine völkerrechtlich bindende Pflicht.
Wenn die Alternative zur Rettung von ertrinkenden Menschen deren Tod bedeutet, ist sie keine Alternative, über die wir diskutieren dürfen. Hinter diesen Satz muss man einen Punkt setzen, bevor man weiterredet und das Schlepperwesen ins Feld führt. Die privat organisierten Seenotretter, die derzeit kriminalisiert werden, können sich sicher nichts Besseres vorstellen, als dass man sie nicht braucht. Dass sie zu wenige sind, um alle zu retten – das macht ihnen zu schaffen. Den zweijährigen Alan Kurdi haben sie nicht retten können. Er wurde an den Strand von Bodrum gespült, mitten hinein ins türkische Ferienparadies. Wenn wir in unserem Urlaub nicht länger in Leichenwasser baden wollen, wenn wir es vorziehen, dass ein Junge wie Alan Kurdi lebt, müssen wir ein funktionierendes System der (mehr-)staatlich organisierten Seenotrettung etablieren.
Nicht nur das Mittelmeer frisst das Leben tausender schutzsuchender Menschen. Libyen gilt vielen Flüchtlingen als das Tor zur Hölle. Dort starb im November 2015 der 14-jährige Somalier Nalo. Er verhungerte in einem Schleppergefängnis. Fu’aad, Fajac und Ban Bas, ebenfalls aus Somalia, starben auch im Schleppergefängnis, Todesursache: Hunger und Krankheit.
Seit die Europäische Union im vergangenen Jahr eine Vereinbarung mit Libyen schloss, die dortige Küstenwache auszubilden, um die Menschen daran zu hindern, libysche Gewässer zu verlassen, sank zwar die Zahl derer, die die Boote nach Italien bestiegen. Es stieg jedoch die Zahl derer, die in Libyen starben. Und es gibt andere, noch gefährlichere Fluchtrouten auf dem Weg nach Europa. Die derzeit wichtigste führt durch die staubtrockene nigrische Sahara – ein Massengrab, in dem auch Bacayaco Alhasane aus Elfenbeinküste, Boubacar Bah und Moustafa Barry aus Guinea irgendwo liegen, wie uns ein Überlebender berichtete. Europa darf die Menschen mit seiner Politik nicht in die Wüste treiben.
Natürlich wäre es besser, wenn die Menschen erst gar nicht fliehen und diese gefährlichen Wege nach Europa auf sich nehmen müssten. Denen, die sagen, dass Geflüchtete in möglichst kulturnahen Ländern untergebracht werden sollen, sagen wir: Ja, das ist so. Und wer glaubt, dass es für ganz Syrien keine schönere Vorstellung gibt, als nach Deutschland zu kommen, irrt fundamental. Wer verlässt seine Heimat freiwillig? Heimat ist da, wo man verstanden wird. Wenn man dieses Gefühl örtlich begreift – und das tun viele Menschen –, ist das Leben in einem geographisch und kulturell nahen Umfeld zunächst einmal einfacher. Es gibt gute Gründe dafür, warum so viele Syrerinnen und Syrer so nah wie möglich an ihrem Land geblieben sind, als um sie herum ihre Welt zusammenbrach. Die meisten nämlich sind im Libanon, in Jordanien und in der Türkei. Auch Rehan, Ghalip und Alan Kurdi lebten eine ganze Weile in Istanbul, bevor sie weiterfliehen mussten. Mohammed Ibrahim vom Verein Aynouna hat in einer langen Reportage für unser Buch einige Menschen porträtiert, die dem syrischen Krieg entkommen sind und nach wie vor in den Nachbarländern leben. Er beschreibt die schwierige Situation, in der sich viele von ihnen befinden. Und er beschreibt Menschen, die ihnen helfen.
Was Menschen in diesen Ländern – oftmals Ehrenamtliche, oftmals selbst Geflüchtete – für die Versorgung Notleidender und Schutzsuchender in den vergangenen Jahren geleistet haben und noch immer leisten, sollte Europa kollektiv vor Scham erröten lassen. Wir sprechen über Dimensionen, die sich hierzulande niemand vorstellen kann. Es sollte nicht nur mit politischer Berechnung zu tun haben – also der Hoffnung darauf, dass die Menschen dort bleiben, wo sie sind, damit sie irgendwann dorthin zurückkehren, woher sie kamen –, wenn wir diese Länder finanziell unterstützen. Das ist zunächst einmal ein Gebot des Respekts. Und es lässt sich nicht mit dem Hinweis auf problematische politische Verhältnisse in diesen Ländern beiseite wischen. Es gibt auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die man unterstützen kann. Es gibt sogar deutsche Organisationen, der Verein Aynouna der Hannoveraner Medizinstudenten ist ein gutes Beispiel. Wenn wir den Menschen eine Perspektive ermöglichen wollen, nahe an ihrer Heimat zu bleiben, und wenn es nur deshalb ist, weil wir nicht wollen, dass sie zu uns kommen, dann müssen wir wirklich finanziell unterstützen. Und wenn wir verhindern wollen, dass die Menschen auf dem Weg nach Europa sterben, müssen wir ihnen vor Ort helfen. Das Gegenteil passiert: Das UNHCR klagt beispielsweise regelmäßig über fehlendes Geld für die Flüchtlingslager in Syriens Nachbarländern, vergeblich.
Die auf der Flucht Gestorbenen und die Überlebenden, die heute unter uns sind: Das sind zwei Diskussionen, die man zunächst einmal getrennt voneinander führen muss. In mancherlei Hinsicht stehen sie aber in engem Zusammenhang. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn wir über das Thema Familiennachzug sprechen. Die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte in Deutschland hat Leben gekostet. Die Syrerin Suzan Hayider, ihr Baby und die dreijährige Tochter, sie wurden bereits genannt, sind im Meer ertrunken, nachdem monatelang nicht zugelassen wurde, dass sie nach Deutschland kommen – „es ist der schlimmste Fall meines Lebens“, sagte der Anwalt ihres Ehemanns. Wenige Wochen nach dem Tod in der Ägäis erhielt Salah J., der Familienvater, doch noch den Flüchtlingsstatus nach Genfer Konvention zugesprochen. Er hatte gegen die Entscheidung des BAMF geklagt. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf bestätigte schließlich: Die Behörde hatte falsch entschieden. Von der BAMF-Entscheidung bis zu ihrer Aufhebung verging mehr als ein halbes Jahr, eine Dauer, die Suzan Hayider mit ihren Kindern in der Türkei nicht durchstehen konnte.
Man muss das nicht gut finden, aber es ist eine Tatsache: Die Menschen gehen dieses Risiko ein, wenn sie von ihren engsten Angehörigen getrennt sind und die Gefahr um sie herum noch bedrohlicher scheint. Wenn wir möchten, dass es denen, die es zu uns geschafft haben, gut geht, müssen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten dafür sorgen, dass es auch denen gut geht, die sie lieben. Die Zahlen zum Familiennachzug wurden in der öffentlichen Debatte von einigen Politikern dramatisiert. Es geht nicht um zu viele Menschen, die Deutschland aufnehmen müsste.
Auch Abschiebungen können tödlich enden. Die bittere Realität auf deutschen Abschiebeflügen hat eine lange Tradition, darauf verweist Heribert Prantl, wenn er das Schicksal von Aamir Ageeb anführt. Ageeb war 1999 nach dem Start des Fliegers am sogenannten Positional-Asphyxia-Phänomen gestorben: eine medizinische Bezeichnung für den Zustand von Festgenommenen nach hoher Gewaltanwendung und anschließender Fixierung. Heute werden immer wieder auch schwer traumatisierte und unter anderen psychischen Krankheiten leidende Geflüchtete abgeschoben, zum Teil direkt aus der Psychiatrie heraus – mögliche Suizide sind damit einkalkuliert. Man kann in solchen Fällen vorhersehen, was eine Abschiebung für die Betroffenen bedeutet.
Besonders kontrovers diskutiert wird die (Un-)Möglichkeit der Abschiebung von Menschen nach Afghanistan. Eine Neubewertung der Sicherheitslage am Hindukusch durch das Auswärtige Amt ließ lange auf sich warten – mit dem Hinweis, dass die Sicherheitslage eine solche nicht zulasse. Es wurden angeblich sichere Teile des Landes konstruiert, die zu nennen nicht möglich war, weil die Lage sich ständig verändere. Liegt es daran, dass in Kabul der einzige Flughafen steht, in die wir unsere Abschiebeflüge schicken können, dass die afghanische Hauptstadt von deutschen Behörden als sicher bezeichnet wird? Obwohl dort immer wieder terroristische Anschläge verübt werden?
Es ist indiskutabel, nach Afghanistan abzuschieben. Das Land ist nicht sicher. Wir nehmen den Tod eines jeden Menschen in Kauf, den wir nach Afghanistan abschieben. Für Rückkehrer aus Europa ist die Gefahr, dort ums Leben zu kommen, um ein Vielfaches höher als für die kriegs- und terrorgebeutelte Bevölkerung im Allgemeinen. Das liegt daran, dass sie gesellschaftlich geächtet sind, sie gelten vielen als Versager. Familien wenden sich ab, Freunde sind misstrauisch; die Rückkehrer wissen nicht, wohin sie gehen sollen, wenn sie in Kabul den Flieger verlassen. Von vielen hört man nie wieder; Menschenrechtsorganisationen versuchen, ihre Schicksale zu verfolgen, und scheitern oftmals daran. Die Suizidrate ist hoch. Einer der 69 Flüchtlinge, die als Horst Seehofers unerwartetes Geburtstagsgeschenk im Juli 2018 abgeschoben wurden, hat sich noch am Tag seiner Ankunft in Kabul erhängt. Sein Name war Jamal Nasser Mahmoudi. Er wurde 23 Jahre alt.
Das Schicksal des jungen Mannes verdeutlicht noch etwas anderes: Er kannte das Land, das von deutschen Behörden als sein „Herkunftsland“ bezeichnet wird, nämlich überhaupt nicht. Er war der Sohn afghanischer Geflüchteter, deshalb wird er als Afghane behandelt. Sein Leben aber hat er im Iran verbracht. Es handelt sich hierbei nicht um ein Einzelschicksal. Viele Menschen, deren Abschiebung nach Afghanistan hierzulande zur Diskussion steht, kennen dort niemanden. In einer nach wie vor von Stammesstrukturen geprägten Gesellschaft aber ist Familie der einzige Anker in einer unsicheren Welt.
In den Debatten um Afghanistan wird auch immer wieder darüber gesprochen, dass man gut Integrierte nicht abschieben solle. Der Anspruch auf Schutz im Rahmen unseres Asylrechts und im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention ist aber nicht an die charakterliche Eignung oder kognitive Fähigkeit eines Menschen zur Integration gebunden. Er gilt auch für Menschen, mit denen man nicht gerne Kaffee trinkt oder feiern geht. Für Menschen, denen man seine Kinder nicht anvertrauen würde. Für Menschen, die Juden hassen. Für Menschen, die unsere Vorstellung von Respekt gegenüber Frauen nicht teilen.
In der Diskussion um das Schicksal Jamal Nasser Mahmoudis betonte das Bundesinnenministerium, dass dieser von deutschen Gerichten mehrfach verurteilt worden sei. Das darf kein Argument sein, ihn in ein unsicheres Land abzuschieben. Nach dem Grundgesetz (Artikel 16a) müssen auch dort „Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt“ sein.
Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. Sie gilt auch für Menschen, die Straftaten begangen haben. Für Menschen, die grapschen, die vergewaltigen, die töten. Man kann die menschliche Würde nicht verwirken. Sie gilt sogar für Terroristen. Und diesen Satz muss man erst einmal aushalten. Sie gilt für die, die nach Europa kommen, um Angst und Terror zu verbreiten. Es sind wenige, die viel Leid verursachen. Man darf ihre Taten niemals rechtfertigen. Man muss Schuldige bestrafen, aber auch für Schuldige gilt Recht. Und man muss versuchen, die Gründe für Hass und Gewalt zu analysieren, um zukünftiges Leid zu verhindern.
Leben ermöglichen.
Wir nennen diese dunkle Seite der Realität, die es immer gibt, wenn Menschen beteiligt sind. Auch wenn es uns nicht leichtfällt, dies in einem Buch zu tun, das sich dem Erinnern an so viele Menschen verschrieben hat, die heute nicht mehr leben. Wir tun es, weil wir es uns nicht leicht machen wollen. Jeder, der sich über Jahre intensiv mit Geflüchteten auseinandersetzt, weiß um die Herausforderungen der Integration. Wir sind davon überzeugt, dass man beim Namen nennen muss, womit wir – neben beschämender Dankbarkeit für Selbstverständlichkeiten und liebevoller Zuneigung für unsere Hilfe – auch immer wieder zu tun haben. Rassismus und Antisemitismus, Homophobie und Sexismus.
Geflüchtete Menschen sind schutzbedürftig. Aber sie sind genau wie wir Produkte ihrer Gesellschaften, mit all ihren schönen und hässlichen Seiten. Eine Romantisierung des menschlichen Charakters liegt uns fern. Die Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, werden sich aber nicht in Luft auflösen, egal, wie sehr man sich das in manchem deutschen Wohnzimmer wünscht. Viele, wahrscheinlich die meisten, werden bleiben. Das gilt nicht nur für die Syrerinnen und Syrer, deren einst so wunderschöne Heimat in einer Bankrotterklärung der Menschenrechte durch die Weltgemeinschaft zur Hölle auf Erden gemacht wurde. Sie dürfen, um Georg Simmel zu bemühen, nicht zu Fremden gemacht werden, die bleiben. Auch in unserem ureigenen Interesse. Wenn wir nicht wollen, dass sie sich fatale Alternativen suchen, an denen sie sich in einer feindlich gesinnten Umgebung festhalten, müssen wir dafür sorgen, dass sie hier angenommen werden. Die Menschenfänger sind erfolgreich in einer Gesellschaft, in der es hier ein Vakuum gibt. Oft sind es angebliche Gläubige, Fanatiker, die die Religion missbrauchen. Die Missionierungsversuche in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen waren zahlreich, und wir haben auch nichtsahnende Geflüchtete mit Broschüren von Scientology in der Hand getroffen.
Bevor wir uns der Herausforderung der Integration stellen können, müssen wir die grundlegenden Bedürfnisse der schutzsuchenden Menschen decken und ihre Rechte achten. In vielerlei Hinsicht geschieht dies in unserem Land nicht. Ob es den Geflüchteten bei uns gut geht, hängt von etlichen Faktoren ab. Viele leben unter der steten Angst vor Abschiebung. Es macht sie mürbe, es lässt sie verzweifeln, die Furcht ist ihr ständiger Begleiter. Und das oft jahrelange ängstliche Warten. So geht es auch allen „Geduldeten“. Sie warten auf den Tag, an dem sie nicht mehr „geduldet“ werden. Das macht viele krank und hat in Deutschland eine lange Geschichte. Ramazan Kaya, seine Eltern stammen aus Samsun in der Türkei, ist nach vielen Jahren ohne gültigen Aufenthaltsstatus im Jahr 2005 in seiner Wohnung in Berlin aus dem Fenster gesprungen. Fast alle Familienmitglieder hatten zu diesem Zeitpunkt psychische Störungen vom Arzt bescheinigt, bei Ramazan galt die Diagnose „paranoid-halluzinatorische Schizophrenie“. Das änderte nichts an seinem zutiefst verunsichernden Nicht-Status in Deutschland.
Die meisten Geflüchteten sind traumatisiert, doch die wenigsten haben Zugang zu psychologischer Betreuung, derer sie so dringend bedürfen. Wir brauchen Therapeuten, die Erfahrung haben mit schwer Traumatisierten, denen diese sich in ihrer Muttersprache anvertrauen können. Vertrauenswürdige Übersetzer, die Therapien begleiten können. Eine junge Frau aus Eritrea, die sich selbst nicht zu helfen wusste und der psychologische Hilfe verwehrt blieb, hat sich und ihr Kind getötet, ihr Name war Tsanait Tadese, das Kind hieß Nahom.
In unseren Ämtern brauchen wir Dolmetscher, die ihre Arbeit machen und nicht die politischen und gesellschaftlichen Konflikte aus Herkunftsländern importieren oder sogar Geflüchtete ausspionieren. Wir brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sensibilisiert sind für kulturelle Verschiedenheiten, empathische Menschen, die nicht vorschnell urteilen. Im BAMF brauchen wir Menschen, die sich die Zeit nehmen, jede Geschichte aufmerksam anzuhören – gemäß der Bestimmungen unseres Asylrechts, das eine Einzelfallentscheidung garantiert. Unsere Gastautorin Heike Martin hat etliche Menschen auf ihren Anhörungstermin beim BAMF vorbereitet und dutzende dorthin begleitet. Ihre Erfahrungen sind alarmierend. Und niemand, der in den vergangenen Jahren regelmäßig Geflüchtete zum BAMF begleitet hat, wunderte sich lange über den Fall Franco A., der sich als Syrer ausgab, ohne Arabisch zu sprechen. Franco A. und Anis Amri, der Terrorist vom Berliner Breitscheidplatz, das sind die beiden Seiten derselben dumpfen Medaille: ein nicht funktionierendes System in unseren Behörden. Es gefährdet uns alle, uns, die wir schon lange in Deutschland leben, und alle Neuangekommenen.
Die Qualität der Gespräche beim BAMF steht und fällt mit den daran beteiligten Personen, die viel zu lange in einem unverantwortlichen Schnellverfahren „ausgebildet“ wurden. Meistens – und das muss betont werden – geschehen Fehler zum Nachteil der Asylbewerberinnen und -bewerber. Wir haben immer wieder unsägliche, unerträgliche Situationen erlebt, als wir Geflüchtete zu ihren Terminen bei den Ämtern begleitet haben. All das zu ändern kostet Zeit, und man muss dafür sorgen, dass die Menschen während des laufenden Asylverfahrens würdig untergebracht sind, auch wenn es Jahre sind.
Eine würdige Unterbringung bedeutet auch, dass das Personal in den Einrichtungen für Geflüchtete respektvoll mit den Menschen umgeht. Faraidun Salam Aziz, ein irakischer Kurde, ist in seinem Wohnheim in Apolda aus dem Fenster gesprungen, nachdem die Security ihn in seinem Zimmer einschloss, den Schlüssel stecken ließ und nicht mehr aufmachte, obwohl er darum flehte, wie mehrere seiner Mitbewohner uns berichteten. Es war bekannt, dass er unter schweren Depressionen litt.
Auch an anderen Stellen unseres Rechtsstaats geschehen unfassbare Dinge. Amad A., ein junger Syrer, ist in diesem Herbst im Bochumer Krankenhaus gestorben, nachdem seine Gefängniszelle brannte; die genauen Umstände sind noch nicht geklärt. In seiner Zelle saß Amad zu Unrecht: Er wurde bei seiner Verhaftung mit einem gesuchten Mann aus Mali verwechselt, weil er dasselbe Geburtsdatum eingetragen hatte: den 1. Januar, das Datum, das bei allen Geflüchteten eingetragen wird, wenn ihr tatsächliches Geburtsdatum nicht nachweisbar ist. Ein kurzer Blick auf die Bilder der beiden Männer hätte genügt, um sicher zu sein, dass es sich um verschiedene Menschen handelt. Stattdessen saß Amad A. länger als zwei Monate im Gefängnis.
Ebenfalls aufgrund seiner Haft starb Oury Jalloh aus Sierra Leone. Er verbrannte in seiner Zelle in Dessau im Jahr 2005. Der Fall wird bis heute untersucht, er gilt als einer der größten Justizskandale der Nachkriegsgeschichte.
Nicht nur der Umgang mit Verhafteten kann in Deutschland tödlich enden. Auch mangelnde medizinische Versorgung der Geflüchteten entscheidet im Zweifel über Leben und Tod. Nur Zakaria Adam ist wahrscheinlich an den Folgen eines unerkannten Herzfehlers gestorben. Der Journalist und Wissenschaftler Ruben Schenzle hat für uns zum ersten Mal seit fünf Jahren vom Schicksal seines Freundes erzählt. Ein Skandal unseres Gesundheitssystems spielte sich auch in Passau ab. Lamine Condeh, ein 20-jähriger Mann aus Sierra Leone, starb an Leberkrebs, nachdem die Krankheit monatelang nicht behandelt worden war. Anstatt ihn ordentlich medizinisch zu untersuchen und zu versorgen, wurde er – trotz der diagnostizierten Hepatitis B – nach Italien abgeschoben, wo er auf der Straße landete. Er schaffte es irgendwie wieder nach Deutschland, blutspuckend. Er wurde trotzdem nicht an den Facharzt überwiesen; das geschah erst, als er die Unterkunft wechselte. Da war es aber schon zu spät. Drei Tage vor seinem Tod kam die Polizei in die Klinik, mit dem Auftrag der Ausländerbehörde, ihn wieder abzuschieben. Die Ärzte weigerten sich. Die Verantwortlichkeiten werden noch zu klären sein.
Es kostet natürlich Geld, die existenziellen Bedürfnisse der Asylbewerberinnen und -bewerber zu decken. Unsere Politikerinnen und Politiker müssen deshalb damit aufhören, sozial Benachteiligte in Deutschland und Geflüchtete gegeneinander auszuspielen. Das für Europa so wichtige Buch „Rückkehr nach Reims“ des französischen Soziologen Didier Eribon hat das Wählerpotential rechtsextremer Parteien im abgehängten Milieu überdeutlich vor Augen geführt. Wir können in diesen Zeiten nicht selbstzufrieden auf der schwarzen Null sitzen, sondern müssen deutlich machen, dass man den Bürgerinnen und Bürgern nichts nimmt, wenn man den Schutzsuchenden gibt, was die Menschlichkeit gebietet. Wir müssen uns um soziale Gerechtigkeit bemühen, wir müssen den Abbau des Sozialstaates stoppen und den absurden Mietwucher in den Großstädten bekämpfen, wenn wir nicht wollen, dass sich die berechtigte Unzufriedenheit gegen diejenigen richtet, die unseres Schutzes am meisten bedürfen.
Für diejenigen, denen nach der Entscheidung des BAMF kein Schutz zugesprochen wurde, muss der Klageweg offenstehen. Dabei ist es nicht mit dem bloßen Verweis auf den Rechtsstaat, der diese Möglichkeit formal garantiert, getan. Viele finden keinen Anwalt, der sie vertritt, die Asylexperten sind überlastet. Und viele wissen gar nicht, dass sie das Recht haben, zu klagen. Wir müssen sie über ihre Rechte aufklären. Der tatsächliche „BAMF-Skandal“ nämlich ist: Im Falle der Afghaninnen und Afghanen werden mehr der eingeklagten negativen Asylbescheide durch deutsche Gerichte wieder aufgehoben, als sie dort standhalten, weil die Menschen in Wirklichkeit eben doch Anspruch auf Schutz haben. Die Häufigkeit der gerichtlich bestätigten Fehlentscheidungen des BAMF gebietet es, dass ein faires Gerichtsverfahren stattfinden muss.
All diejenigen, die in unserem Land sind, weil sie unseren Schutz brauchen, sollen keine Fremden bleiben. Dafür müssen wir zuhören und versuchen, zu verstehen. Nur so können sie sich uns öffnen. Nur so bleibt unsere Heimat das, was sie ausmacht: Ein Kompromiss zwischen Sicherheit und Freiheit, mit dem alle leben können. Und nur so helfen wir den Menschen, dies als neue Heimat zu finden. Wir müssen versuchen, uns zu verstehen. Heimat ist da, wo man verstanden wird.
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Die Europäische Union funktioniert „heute nicht mehr als ein Projekt von Nationalstaaten für gemeinsamen Wohlstand und zur Durchsetzung gemeinsamer Werte, die Unterstützung mobilisieren und Grundlage für die Lösung von Konflikten sind“, bilanziert Christoph K. Neumann in seinem Beitrag bitter. Die südlichen Staaten unseres Kontinents wurden von ihren angeblichen Partnern lange alleingelassen mit den Konsequenzen der Flucht – Stichwort Dublin. Osteuropäischen Staaten sieht man in Brüssel derzeit dabei zu, wie sie ihre Rechtsstaaten demontieren und für menschenverachtende Bedingungen für Geflüchtete sorgen, damit sie wegbleiben. Es kann aber nicht das Beste für Europa sein, die Konsequenz aus unserer Geschichte – das Streben danach, die menschliche Würde nicht anzutasten – aufzugeben.
Dass sich die 190 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Juli 2018 auf den Text des ersten globalen Abkommens zur Migration geeinigt haben, lässt hoffen, hat Karl-Heinz Meier-Braun geschrieben. Der Pakt verpflichtet sich erneut auf die Einhaltung der Menschenrechte, setzt ein klares Ausrufezeichen hinter die Legalität und die Gebotenheit der Seenotrettung und ein Zeichen gegen weltweit verbreitete Mythen und Legenden im Zusammenhang mit der Migration; er könnte zur Versachlichung der Debatte beitragen. Wenn er gelesen wird. Im Dezember wird der Vertrag in Marokko unterzeichnet. Dieser Unterzeichnung muss praktische Politik folgen.
„Warum habt ihr nichts gemacht?!“, könnten uns künftige Generationen fragen. Das hat die diesjährige Preisträgerin des Deutschen Buchhandels Aleida Assmann gesagt, Moustapha Diallo hat den Satz zitiert. Haben wir Europäer aus unserer Geschichte wirklich nichts gelernt? Der Historiker Carlos Collado Seidel hat in seinem Text auf die Konferenz von Évian verwiesen, die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir zitierend: „Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind?“ Bernd Mesovic hat an das Schicksal der boat people aus Vietnam erinnert, das uns zeigt, dass der Umgang mit Geflüchteten immer ähnlichen Mustern folgt. Und NS-Expertin Angela Hermann schloss ihren Text mit dem Satz: „Wenn man eines aus der Geschichte lernen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass sich Inhumanität zunächst gegen die Schwächsten richtet, bevor sie sich wie ein Flächenbrand ausbreitet“.
Die vergangenen Jahre haben das Janusgesicht unseres Kontinents gezeigt, seine Hässlichkeit, aber auch seine Schönheit. Wir wollen all die Menschen in den europäischen Ländern nicht vergessen, die sich von der Selbstverständlichkeit zu helfen angesichts so vieler Schutzsuchender bewegen ließen; Menschen, die halfen und dies noch immer, Tag für Tag, tun. Es sind weniger geworden, aber es sind viele. Wer einmal entschlossen in diese Richtung gegangen ist, geht nicht mehr zurück.
Wir leben in einer Zeit, in der wir wachsam sein müssen, damit man uns unsere geschätzten Freiheiten nicht nimmt. Inzwischen gehen Zehntausende auf die Straße, um der Hetze, die den politischen Diskurs dominiert, etwas entgegenzusetzen.
Wir wollen nicht kapitulieren vor der lähmenden Macht der Ohnmacht, die droht, wenn wir uns mit dem Ausmaß der Tragödie auseinandersetzen, die sich an unseren Grenzen abspielt. Unsere Überzeugung ist: Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben ist keine hohle Phrase. Es ist nicht verhandelbar. Und wir sind im Wortsinne konservativ, wenn wir diese Erkenntnis zu bewahren versuchen. In all den Diskussionen um Flucht und Asyl sollten wir aufhören, links oder rechts zu denken und uns gegenseitig anzuschreien. Letztlich ist es die Herausforderung unserer Zeit, endlich Herz und Kopf zusammenzubringen.
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? Allein im Nebel tast’ ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben. Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben.
(Mascha Kaléko)
Es ist wahr: Für die Menschen, von denen dieses Buch erzählt, ist es zu spät. Sie sind tot. Für sie wollen wir Khalil Gibran sprechen lassen:
Wenn ich bleibe, liegt in meinem Bleiben ein Gehen. Und wenn ich gehe, liegt in meinem Gehen ein Bleiben. Nur die Liebe und der Tod verändern alles.
Es ist nicht zu spät für all die anderen. Die Hoffnung darf nicht sterben. Wir haben die Wahl, sie leben zu lassen.
Kristina Milz und Anja Tuckermann im Oktober 2018