Wer ausspricht, dass Afghanistan nicht sicher ist, sagt auch: Unser Einsatz ist gescheitert – ein Kommentar von Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck zur gestrigen Abschiebung

Die Journalisten Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck haben 2015 ihren heutigen Pflegesohn aus Ungarn nach Deutschland gebracht und den jungen Afghanen seither eng durch die deutsche Bürokratie begleitet. Sie schrieben darüber einen Text fürs SZ-Magazin, daraufhin zeigte sie ein Leser an. Das Verfahren wurde eingestellt, weil sie ohne Gewinnabsicht geholfen hatten. Zuletzt haben sie sich in einem Film und in dem Podcast “Gegen die Angst” mit einem Terroranschlag in Kabul auseinandergesetzt – und mit ihren eigenen größten Ängsten.

Gestern wurden trotz der katastrophalen Sicherheitslage wieder 14 junge Männer von Deutschland aus nach Afghanistan abgeschoben. Ronja und Niklas haben das zum Anlass genommen, einen Beitrag für unseren Blog zu schreiben:

 

Im Juli haben wir am Flughafen in Kabul einen jungen Mann getroffen, den man mit nichts als einer Plastiktüte aus Österreich abgeschoben hatte. Wir hoben noch schnell unsere Taschen vom Band. Danach wollten wir ihm wenigstens ein paar Freunde von uns nennen, bei denen er vielleicht erste Hilfe finden könnte. Aber als wir uns zu ihm umdrehten, war er schon losgerannt. Er war in Panik, weg vom Flughafen in Richtung der Stadt.

Einer Stadt, die er noch nie zuvor betreten hatte. Und die ihm Angst machte.

Gestern hob der neunzehnte Abschiebeflug aus Deutschland nach Kabul ab. Wieder wurden mehrere Dutzend junger Männer ins Feuer geschickt.

Warum „ins Feuer?“

Viele der Abgeschobenen sind nie zuvor in Afghanistan gewesen, weil sie im Iran oder in Pakistan aufgewachsen sind. Viele von ihnen kennen niemanden in Kabul. Sie werden ein paar Tage durch IOM untergebracht, die Migrationsorganisation der UNO. Danach haben sie nur eine einzige Anlaufstelle im Land: Die Ein-Mann-NGO AMISO, deren Möglichkeiten zur Hilfe extrem begrenzt sind.

Wer niemanden kennt, findet keinen Job, findet keine Wohnung, kein Essen. Viele Abgeschobene werden zur Zielscheibe für Gewalt und Entführungen: Manche sind konvertiert und müssen sich jetzt vor ihrer eigenen Familie verstecken. Manche werden für reich gehalten, weil sie in Europa waren. Manche werden stigmatisiert, weil das Narrativ der Bundesregierung natürlich auch in Kabul ankommt, dass angeblich ausschließlich Straftäter abgeschoben würden.

Anders als die Regierung behauptet,  werden aber eben nicht nur Straffällige deportiert. Immer wieder wurden junge Männer abgeschoben, die kurz vor dem Abschluss standen, und Azubis, die jeden Tag zur Arbeit gingen, Steuern zahlten.

Der unbedingte Wille der CDU-geführten Bundesländer, immer noch energischer abzuschieben nach Afghanistan, hat mit der tatsächlichen Lage im Land nicht das Geringste zu tun. Er entspringt vielmehr dem Irrglauben, so ließe sich verhindern, dass Wähler zur AfD abwandern.

Doch die Rhetorik der Befürworter von Abschiebungen tut so, als gäbe es  einen Zusammenhang.

Wir schieben ab, WEIL Afghanistan sicher genug ist.

Das ist eine Lüge, und das weiß jeder, der diesen Satz ausspricht.

Die UN veröffentlicht zwei Mal im Jahr einen Bericht über zivile Opferzahlen. Der Bericht ist sehr konservativ: Er umfasst nur diejenigen Fälle, die von drei unabhängigen Quellen bestätigt werden können. Jedes halbe Jahr steigen die Zahlen drastisch. In diesem Jahr rechnet die UN damit, dass die Zahlen der Kriegsopfer in Afghanistan die in Syrien übersteigen wird. Dazu kommt: Die Wirtschaft liegt am Boden, reiche Afghanen retten ihr Kapital nach Dubai und in die Türkei. Eine massive Dürre bedroht hunderttausende Leute mit Hunger und treibt die Lebensmittelpreise in die Höhe.

Die bewusste Falschaussage, es gebe sichere Gebiete in Afghanistan, hat dramatische Folgen für jede/n einzelne/n Afghanen/Afghanin in Deutschland: Sie alle stehen erstmal als Lügner da. Und müssen sich in ihrem Privatleben ständig dafür rechtfertigen, warum sie überhaupt hier sind. Herscht in deinem Land wirklich Krieg?

Ein wahrer Satz wäre:

Wir schieben ab, OBWOHL die Sicherheitslage dramatisch schlechter geworden ist.

Man schiebt nicht ab, weil Afghanistan sicher ist oder weil es dort sichere Gebiete gibt. Man schiebt ab aus einem Grund, der nichts mit den Geflüchteten und ihren Schicksalen zu tun hat.  Die Bundesregierung hat in 17 Jahren Einsatz in Afghanistan Millarden von Steuergeldern ausgegeben, mehr als 50 deutsche Soldaten sind im Krieg gestorben, und auch deutsche Entwicklungshelfer/innen wurden in Afghanistan getötet.

Wer ausspricht, dass Afghanistan nicht sicher ist, sagt auch: Unser Einsatz ist gescheitert. Wir haben unsere Ziele nicht erreicht. Die Milliarden Euro, die Toten – das alles war umsonst.

Niemand, dessen Partei in den letzten 17 Jahren Regierungsverantwortung hatte, möchte das öffentlich aussprechen. Hinter vorgehaltener Hand ist es politischer Konsens. Andere Länder haben ihren Einsatz in Afghanistan ausgewertet. Norwegen zum Beispiel hat eine unabhängige Komission dazu beauftragt. Die schrieb einen Bericht, 200 Seiten lang, in dem sie Erfolge und vor allem Fehler auflistete und der nun Grundlage ist, um bei einem nächsten Einsatz bessere Entscheidungen zu treffen, bessere Politik zu machen, bessere Ergebnisse zu erzielen, vielleicht sogar: tatsächlich Sicherheit zu schaffen, so dass am Ende nicht Hunderttausende dazu gezwungen sind, ihr Land zu verlassen.

In Deutschland gibt es diese Art von Bericht nicht. Im Gegenteil: Eine unabhängige Analyse des Afghanistaneinsatzes wurde mehrfach und ausdrücklich verweigert, von Seiten der beteiligten Ministerien.

Eine solche Analyse ist nicht nur für Afghanistan wichtig. Bei den nächsten Einsätzen, die bereits begonnen haben, wird die Bundesregierung anders als Norwegen nicht aus ihren Fehlern gelernt haben. Es werden wieder Milliarden von Steuergeldern ohne Erfolg ausgegeben werden. Es werden wieder Soldat*innen und Entwicklungshelfer*innen sterben. Und sehr wahrscheinlich wird am Ende wieder alles umsonst gewesen sein.