Mit jedem Toten verlieren demokratische Institutionen ihre Legitimität: Anja Mihr, HUMBOLDT VIADRINA

Anja Mihr leitet das Center on Governance through Human Rights der HUMBOLDT VIADRINA Governance Platform. Darüber hinaus hat sie gegenwärtig die DAAD Gastprofessur an der OSZE Akademie in Bischkek, Kirgiesien, inne, und war viele Jahre als Professorin am Institut für Menschenrechte (SIM) der Universität Utrecht in den Niederlanden tätig.
Anja Mihr ist Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitete für das Deutsche Institut für Menschenrechte der GIZ, am UNESCO-Lehrstuhl für Menschenrechte der Universität Magdeburg und als Forschungsdirektorin an der Humboldt Universität zu Berlin. Anja Mihr war Direktorin für das Europäische Masterprogramm für Menschenrechte und Demokratisierung (E.MA) am European Inter-University Center for Human Rights and Democratization (EIUC) in Venedig. Sie war Leiterin der „Rule of Law“-Abteilung am The Hague Institute for Global Justice. Anja Mihr hielt Gastprofessuren in Peking, New York, Finnland, Eriwan und Spanien.
Von 2002 bis 2006 war Anja Mihr außerdem im Vorstand von amnesty international Deutschland, zwei Jahre lang war sie Vorsitzende des Vereins. Auf ihrer Homepage finden sich Informationen zu ihren Publikationen und aktuellen Projekten. Trotz zahlreicher terminlicher Verpflichtungen hat sie uns sofort ihre Unterstützung zugesichert und die folgende Begründung geschickt:

Das Recht zu leben und körperlich unversehrt zu bleiben: Sind das wirklich Menschenrechte für alle? Oder doch nur für diejenigen, die es sich leisten können und das Glück hatten, auf der „richtigen“ Hälfte der Erdhalbkugel geboren zu sein?

Mit welcher Glaubwürdigkeit wir universelle Werte und Menschenrechte derzeit in Europa leben, misst sich täglich an den unzähligen Schicksalen auf und um das Mittelmeer herum. Unser ohnmächtiges Zusehen beim Sklavenhandel in Libyen oder beim Ertrinken von Frauen, Männern und Kindern durch unterlassene Hilfeleistung vor den Küsten Maltas oder Siziliens ist auch das Ergebnis der Unfähigkeit unserer staatlichen und demokratischen Strukturen, schnell und werteorientiert zu reagieren. Für all diejenigen, die fliehen müssen oder sich ein besseres Leben in Europa versprechen, zeigt sich hier das Versagen staatlicher Institutionen sehr deutlich – weltweit. Wer einspringt, sind in der Regel die NGOs und die sogenannten „Sanctuary Cities“: Städte und Kommunen, die sich über Gsetze und Regeln hinwegsetzen und einfach helfen und damit die Menschenrechte lokal verteidigen. Wenn sogar Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, die spendenfinanziert und unter hohem persönlichen Risiko Menschen aus ihrer Not befreit, inzwischen vor europäischen Gerichten für ihr Handeln angeklagt und in der Regel  (noch) frei gesprochen werden –, weil sie die Europäische Grundrechtecharta von 2000 und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 wörtlich verteidigen, dann haben demokratisch gewählte Parlamente versagt.

Es darf nicht sein, dass der Anstand in unserer Gesellschaft und die Achtung der menschlichen Würde allein von (noch) unabhängigen Gerichten, NGOs, mutigen Bürgermeistern und Privatinitiativen aufrecht gehalten werden. Umgekehrt sollten weder gewählte Volksvertreter dies allein den Richtern noch den NGOs überlassen. Sie müssen Flagge zeigen, und Mut zu langfristigen Entscheidungen haben, wenn es um die zunehmende Mobilität von Menschen weltweit geht. Der UN Global Compact for Migration, der im Winter verabschiedet wird, nimmt dazu eindeutig Stellung.
Denn Abschreckung durch Ertrinkenlassen und Menschenhandel ist kein nachhaltiges Konzept. Mit jedem Toten im Mittelmeer und jedem verkauften Menschen an der Küste Nordafrikas verliert Europa seine Glaubwürdigkeit und demokratischen Werte – und bald auch seine Handlungsfähigkeit. Stärker aber noch verlieren demokratische Institutionen innerhalb unserer Gemeinschaft ihre Legitimität, weil sich die Bürger daranmachen, die mit Migration zwangsläufig auftretenden Probleme und Herausforderungen selbst anzugehen, ob mit Gewalt gegen Migranten oder durch humanitäre Hilfeleistungen. Beides findet derzeit steigenden Zulauf – jenseits von Staatlichkeit- und ob uns dies beruhigen sollte, mag ich bezweifeln.