Heute gedenken wir des 20-jährigen Lamine Condeh (Foto: privat) aus Sierra Leone, der vor einem Jahr, am 2. März 2018, in Passau an Leberkrebs starb, nachdem er monatelang im Transitzentrum Deggendorf nicht behandelt wurde. Die damals zuständigen Ärzte sind nie zur Rechenschaft gezogen worden.
Von Anja Tuckermann
„Wenn es mir besser geht, will ich richtig lernen“, hatte Lamine zu seinen Freunden im Lager Deggendorf gesagt. Zuerst wollte er Deutsch lernen und dann studieren, sein Traum war es, Maschinenbauingenieur zu werden und in der Autoindustrie zu arbeiten.
„Das kannst du nicht, das schaffst du nicht“, sagten seine Freunde. Aber Lamine erwiderte nur: „Das wisst ihr nicht. Das könnt ihr nicht wissen.“
Er sprach schon drei Sprachen, Mandingo, Krio und Englisch, und lernte Deutsch.
Sie alle wussten, dass Lamine schon krank nach Deutschland gekommen war. Nach einigen Monaten, ohne hier richtig behandelt worden zu sein, war er sehr schwach und müde geworden. Im Gemeinschaftszimmer half ihm oft sein Mitbewohner auf oder brachte ihm, was er brauchte. Zum Beispiel warmes Wasser. Der Arzt hatte gesagt, Lamine solle viel warmes Wasser trinken. Weitergehende Untersuchungen gab es viel zu lange nicht.
Lamine Condeh wurde am 5.12.1997 in Freetown in Sierra Leone geboren. Nach einer langen Odyssee war er zusammen mit seinem Freund Adam, der ihm wie ein Bruder war, von Sierra Leone über Guinea, Mali, Burkina Faso, Algerien, durch die Sahara nach Libyen, über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Adam war noch in Libyen und so wartete Lamine einen Monat auf Sizilien, bis Adam es wirklich über das Meer geschafft hatte und sie wieder zusammen waren. Dann schlugen sie sich nach Deutschland durch, wo sie am 24. Dezember 2014 ankamen.
Lamine war schwach und hatte Rückenschmerzen. Im Januar 2017 wurde bei ihm Hepatitis B diagnostiziert. Das war’s dann erst mal. Es gab keine Untersuchung der Leber und keinen Test auf Hepatitis C, obwohl er schon die Symptome einer Leberschädigung hatte. Der für das Lager Deggendorf zuständige Arzt habe nach Berichten mehrerer Geflüchteter die Menschen grundsätzlich nicht untersucht, sondern ihnen entweder Schmerzmittel oder Schlafmittel verschrieben, sie unterschreiben lassen und wieder weggeschickt. Die Medikamente habe er ihnen persönlich ins Lager gebracht. „Er untersucht uns nicht. Aber wenn wir nicht krank wären“, sagte ein anderer Freund Lamines, „würden wir doch nicht erst zum Arzt gehen.“
Für Lamine gab es eben darüber hinaus nur noch den Rat, viel warmes Wasser zu trinken.
Adam oder ein anderer Freund brachten ihn immer wieder zum Arzt und versuchten, für Lamine zu sprechen. Aber der Arzt habe keinen Begleiter zur Unterstützung ins Sprechzimmer gelassen und die afrikanischen Patienten nie berührt.
Oft saßen die jungen Afrikaner zusammen und diskutierten über ihre Zukunft. Aber Lamine wurden diese Gespräche schnell zu anstrengend, dann stand er auf und sagte, er müsste jetzt etwas trinken. Und er setzte sich abseits allein wieder hin.
Er sprach nicht viel, alle im Lager erinnern sich, dass er sehr still war. „Ich bin in Europa und habe auch hier keinen Schutz“, sagte er einmal.
Seinem Mitbewohner war Lamine ein wichtiger Ratgeber und seine Ratschläge befolgte er: Halte dich von Schlägereien fern, streite nicht. Stiehl nichts, auch wenn dir im Supermarkt nur ein, zwei Cent fehlen, um das zu kaufen, was du möchtest. Geh nirgendwohin, wo es Probleme gibt. Sei nicht arrogant. Ich will nicht hören, dass du irgendwo streitest und dich schlägst.
Am 25. Juli 2017 kam nachts um zwei Uhr die Polizei ins Zimmer und nahm Lamine mit. Er sagte, er sei krank, er habe einen Arzttermin, zeigte den Polizisten die entsprechenden Unterlagen, woraufhin sie sagten, sie würden ihn zum Arzt bringen. Aber sie brachten ihn zum Flughafen Frankfurt und er wurde nach Mailand abgeschoben. Dort erging es ihm wie allen, er wurde von der italienischen Polizei in der Stadt auf der Straße ausgesetzt, ohne Essen, Trinken, ohne Dach über dem Kopf, ausgeliefert dem Wetter und den Kriminellen. Am 7. August 2017 hatte er sich wieder nach Deutschland durchgeschlagen und wurde zurück ins Lager Deggendorf geschickt. Sein gesundheitlicher Zustand hatte sich in der kurzen Zeit deutlich verschlechtert. Nun spuckte er Blut. Aber immer noch bekam er vom Arzt keine Überweisungen zu weitergehenden Untersuchungen und wurde daher auch nicht behandelt.
Lamine war ein großer Fußball-Fan und verfolgte die Spiele von Real Madrid, Arsenal London und Bayern München. Gern hätte er, wie früher in Freetown, auch selbst Fußball gespielt, aber dafür war er zu schwach. Er hörte viel Musik, besonders mochte er Reggae aus Jamaika, die Texte erzählen vom Leben.
In Freetown hatte er seinem Bruder in dessen kleinem Handel geholfen. Aber dann geriet er in Gefahr und flüchtete.
Lamine war oft traurig und weinte sehr schnell. Besonders nach seiner Familie stellten ihm die Freunde gar keine Fragen mehr, denn dann begann er sofort zu weinen und alle weinten mit ihm. Lamines Vater lebte nicht mehr, seine Mutter war ins benachbarte Guinea gezogen. Lamine hinterlässt einen kleinen Sohn in Sierra Leone.
Zurück in Deutschland verschlechterte sich Lamines Gesundheitszustand rapide. Von der Leber ausgehend hatte er Metastasen in der Wirbelsäule und starke Schmerzen. Erst als er das Lager Deggendorf verlassen durfte, um in einem Flüchtlingsheim zu wohnen, bekam er Überweisungen zu weitergehenden Untersuchungen. Im Oktober 2017 wurde er operiert, ihm wurden in der Klinik in Passau Metastasen an der Wirbelsäule entfernt. Aber erst im Januar 2018 wurde der wichtige Test durchgeführt und Hepatitis C festgestellt. Inzwischen aber war Lamine zu schwach, um zu weiteren Untersuchungen zu gehen und aus einem Leberabszess war Krebs geworden.
Im Klinikum Passau konnten die Ärzte trotz aller Bemühungen sein Leben nicht mehr retten. Nur noch verhindern, dass er auf Anordnung der Ausländerbehörde Deggendorf in die Gemeinschaftsunterkunft zurückverlegt wurde, und dafür sorgen, dass er in Würde sterben konnte.
Drei Tage vor seinem Tod war die Polizei im Auftrag der Ausländerbehörde in die Klinik gekommen und wollte ihn wieder nach Italien abschieben. Das ließen die Ärzte nicht zu.
Am 1. März 2018 starb Lamine in Passau. Beerdigt wurde er in Hutthurm bei Passau. „Was bleibt, ist nicht nur Trauer, sondern auch die Fassungslosigkeit der Ärzte und Helfer über die Abschiebepolitik im Allgemeinen und die Art, wie mit Lamine umgegangen wurde im Speziellen“, schrieb die Passauer Neue Presse. Lamines Freunde und Bekannte aus dem Lager Deggendorf wollten an der Trauerfeier teilnehmen, bekamen aber von der Ausländerbehörde nicht die Genehmigung, das Lager zu verlassen. Andere verpassten den Zug, weil das Büro, von dem sie sich die Genehmigungen ausstellen lassen mussten, absichtlich zu spät geöffnet wurde. Manchen wurden bei der Gelegenheit die Aufenthaltserlaubnis entzogen.
Am 8. Mai 2018 erschien in der Wochenzeitschrift Die ZEIT ein Artikel, der einem Arzt des Lagers Deggendorf ausführlich Gelegenheit bot, sich anonym darüber zu verbreiten, dass „keiner seiner heutigen Patienten vor einem Krieg geflohen“ seien. Die ZEIT schreibt weiter: „Viele hält er für „Medizintouristen’. Manche hat er im Verdacht, mit den Medikamenten zu dealen, die er ihnen verschreibt.“ Und zitiert ihn so: „Die Klientel ist eine andere geworden, frech und fordernd. Da kommen jetzt Leute, die wollen Viagra.“ Oder künstliche Hüften oder ein neues Gebiss. Und es kämen junge Männer, die – so sagt es der Arzt – nacheinander ‚motorisch völlig unauffällig’ in sein Behandlungszimmer federten, die Ohrstöpsel ihrer MP3-Player nicht abnähmen und wortgleich ‚serious pain’ beklagten, heftige Schmerzen, gegen die sie dringend starke ‚pain killer‘ benötigten. Asylbewerber aus Sierra Leone würden über „Wehwehchen“ klagen. Angesichts dessen betreibe er „eine Art Leistungsabwehr“. Wer diese Zitate liest, bekommt den Eindruck, man hätte es mit Lamines Arzt zu tun, dem Die ZEIT da eine solche Plattform bot. Meinte der Arzt vielleicht Lamine aus Sierra Leone, der „serious pain“ simulieren und über „Wehwehchen“ klagen würde?
Lamine lebt nicht mehr, seine Freunde trauern noch um ihn. Jeden Monat geht Adam an sein Grab.
Wie es zu Lamines Tod kommen konnte, wird nicht mehr geklärt werden können, denn die Krankenakten für den Aufenthalt in Deggendorf sind nicht mehr zugänglich, trotz vieler Zeugen konnte der gesamte Ablauf von Lamines Leidensweg nicht vollständig aufgearbeitet werden. Die Antworten auf eine Anfrage der Abgeordneten Christl Kamm an die Staatsregierung seien laut des Vereins matteo teilweise nachweisbar unrichtig oder unvollständig gewesen.