Die Menschlichkeit an Land gespült: Familie Kurdi

Von Kristina Milz

Sein Bild ging um die Welt, es ist die Ikone der größten humanitären Katastrophe unseres Jahrhunderts. Menschen haben es auf Mauern gesprayt, als Sandskulptur geformt, den schmalen Schultern in Gemälden Flügelchen verpasst. Das französische Satireblatt Charlie Hebdo hat es in Karikaturen dargestellt, der chinesische Künstler Ai Wei Wei nachgestellt. Über den Hashtag #HumanityWashedAshore – die Menschlichkeit an Land gespült – verbreitete sich das Bild innerhalb weniger Stunden bis in den letzten Winkel der Erde. Alan Kurdi: ein kleiner Körper ohne Leben, dunkelblaue Hose, karminrotes T-Shirt, winzige Turnschuhe; das Gesicht im nassen Sand. Man wird nicht vergessen, wie er dort lag, am Strand in der Nähe von Bodrum, diesem Urlaubsidyll der türkischen Mittelschicht. Alan war der Sohn von Abdullah und Rehan Kurdi, einem Ehepaar aus Damaskus. Er hatte einen Bruder, Ghalip, fünf Jahre jung, dessen Körper hundert Meter weiter angeschwemmt wurde. Auch die Mutter hat die Fahrt über das Mittelmeer nicht überlebt.

Das Leben der Kurdis in Syrien vor dem Krieg war aufgeräumt. Sie gehörten der Mittelschicht an, dort, wo man sich Gedanken macht über die beste Ausbildung für die Kinder. Doch die Stationen des kurzen Lebens von Alan Kurdi klingen anders: Damaskus, Aleppo, Kobane. Es ist eine Aneinanderreihung der Schreckensorte aus mittlerweile acht Jahren Krieg. Zuletzt, den Fassbomben des Assad-Regimes und dem Terror des selbsternannten Islamischen Staates entkommen, lebte Familie Kurdi in Istanbul. Die Kinder, „die schönsten Kinder der Welt“ findet der Vater, weckten ihn jeden Morgen ungeduldig auf, sie wollten spielen: „Gibt es irgendetwas Schöneres?“

Als Flüchtling durfte Abdullah Kurdi in der Türkei nicht arbeiten. Illegal schuftete er auf Baustellen, um seine Frau und die beiden Söhne durchzubringen in dieser schwierigen Zeit mit einer ungewissen Zukunft. Kanada, wo seine Schwester wohnt und versuchte, die Familie zu sich zu holen, verlangte Dokumente, an die ein Syrer in der Türkei nicht kommt. Der Bruder des Vaters, Mohammed, einst erfolgreicher Damaszener Friseur mit eigenem Salon, nun in derselben Stadt, in derselben Lage, hielt die Hoffnungslosigkeit nicht mehr aus und machte sich auf den Weg nach Europa. Von Heidelberg aus riet er Abdullah und seiner Schwägerin Rehan, es auch zu versuchen: Zwischen Verzweiflung und Hoffnung liegt nur das Mittelmeer. Danach: Griechenland, fester Boden in Europa.

Ein Kontinent, der viel verspricht und wenig hält: Das Boot auf dem Weg dorthin kentert, dutzende Menschen kämpfen im Wasser um ihr Leben. Abdullah Kurdi lässt seine Kinder los, als er merkt, dass sie tot sind. Auch seine Frau kann er nicht retten. Er lässt die Leichen in Syrien begraben. Er selbst hat überlebt, das bringt ihn um, jeden Tag.

Alan Kurdis Bild, kurz nach der Katastrophe fotografiert, bewegte die Menschen weltweit, die Politik musste reagieren. Kanada, Australien und die USA kündigten an, mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Recep Tayyip Erdoğan bot Alans Vater, dem Kurden, die türkische Staatsbürgerschaft an. Der Präsident der autonomen Kurdenregion im Irak, Massud Barsani, versprach, ihn auf Kosten seiner Regierung in Erbil unterzubringen.

Am 2. Januar 2016, wenige Monate nach Alan Kurdis Tod, ertrinkt ein zweijähriger Junge im Mittelmeer. Das Boot, auf dem er saß, war vor der griechischen Insel Agathonisi auf die Klippen gestoßen. Es gibt kein Foto, die Meldung ist bloß eine Randnotiz. Niemand weiß, woher er kam, und niemand kennt seinen Namen.