Die Türkei und die Flüchtlinge im Mittelmeer – Vortrag von Christoph K. Neumann am Internationalen Tag der Menschenrechte

Christoph K. Neumann, Jahrgang 1962, ist Professor für Türkische Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beschäftigt sich wissenschaftlich mit osmanischer Geschichte, türkischer politischer Kultur und moderner türkischsprachiger Literatur. Zugleich gehört er zum Vorstand der Off-University e.V., einer Organisation, die sich bemüht, verfolgten türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Forschung und Lehre zu ermöglichen.

Für unser Buch „Todesursache: Flucht“ hat Christoph einen Gastbeitrag mit dem Titel „Festung Europa und ihr mediterraner Burggraben“ verfasst. Darin denkt er über „die EU als imperiale Struktur und das Sterben im Mittelmeer“ nach. Am Montag war der Internationale Tag der Menschenrechte und Christoph hat zusammen mit Kristina, seinen Kolleginnen und Kollegen und Studierenden vom Institut für den Nahen und Mittleren Osten sowie Studierenden der students4refugees und Gastautor Lorenz Narku Laing vom Geschwister-Scholl-Institut der LMU München eine gut besuchte Lesung organisiert. Dabei hat er einen Vortrag gehalten, der hier im Wortlaut zu lesen ist:

 

Es gibt, wie wahrscheinlich die meisten hier im Raum wissen, ein Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Die EU zahlt der Türkei zweimal 3 Milliarden Euro; die Türkei passt dafür auf die Flüchtlinge auf, die auf ihrem Territorium ankommen: Damit sollen diese in der Türkei versorgt werden und Zugang zu medizinischer Behandlung sowie zu Bildung erhalten. Vor allem aber sollen sie nicht versuchen, in die EU zu fliehen. Wer es doch tut und aufgegriffen wird, den nimmt die Türkei zurück. Für jeden Flüchtling, den die Türkei so zurücknimmt, ist die EU im Prinzip bereit, eine andere Person aufzunehmen. Vertreter der EU behaupten, mit diesem Abkommen ein humanitäres Ziel zu verfolgen: Wer in der Türkei bleibt, ertrinkt nicht in der Ägäis oder stirbt beim Versuch, über den Fluss Maritza (oder auf Türkisch Meriç) nach Bulgarien zu kommen. Dabei wird unterschlagen, dass Menschen ja deshalb im Wasser umkommen, weil die EU ihnen keinen geregelten Zugang auf ihr Territorium erlaubt.

In der Türkei entwickelt sich derweil das Leben mit Flüchtlingen. Abgesehen von Menschen aus anderen Ländern, etwa dem Iraq oder Afghanistan, leben zur Zeit mehr als 3,5 Millionen Syrer im Land – jedenfalls nimmt man das an; denn von einem ziemlich großen Teil weiß auch die türkische Verwaltung nicht, wo sie sich befinden. Die meisten dieser Leute leben nicht in Lagern; seit den neuesten Schließungen von sechs großen Zentren vor etwa drei Wochen sind nur noch etwa 200.000 Syrer in türkischen Lagern untergekommen; davor waren es 300.000. Grund für die Schließungen: Einsparungen. Die Republik Türkei soll so 76 Millionen Türkische Lira weniger ausgeben, etwa 12 Millionen Euro. Man kann sich anhand dieser Zahl vorstellen, wie viel von den drei Milliarden Euro der EU (das sind ohnehin weniger als 1000 Euro pro Mensch) für die Flüchtlinge ausgegeben wird. Andererseits nicht erstaunlich, denn zugleich mit der Anweisung von Zahlungen aus dem Flüchtlingsabkommen wurden Gelder für Projekte gestrichen, die für die Annäherung der Türkei an die Europäische Union eingeplant waren: Sie ist ja immer noch Aufnahmekandidat.

Dennoch zeigt die Türkei, wie Flüchtlingsaufnahme funktioniert, wenn man nicht so viel tut: Menschen kommen an. Fast 400.000 Flüchtlingskinder sind in den letzten Jahren in der Türkei zur Welt gekommen. Mohammed Ibrahim schildert in seinem Beitrag im Buch, wie ihm in Istanbul, aber auch in Beirut und in Jordanien an verschiedenen Ecken und Enden arabische Flüchtlinge begegnet sind. Menschen, die versuchen, ein Leben zu leben und dabei ungeheure Anpassungsleistungen vollbringen. Aber die meisten sind vor allem eines: arm. Und in einigen türkischen Städten gibt es Demonstrationen gegen sie, neben denen der rechtsradikale Protestzug von Chemnitz wie eine zurückhaltende Wortmeldung wirkt. Dennoch bricht das Land nicht zusammen. Es hat allerdings eine neue Unterschicht, eine Gruppe von Menschen mit geringerem Rechtsstatus und höherer Bereitschaft, sich ausbeuten zu lassen. Flüchtlinge haben kaum politische Rechte und meist auch nur wenige der sozialen Menschenrechte wie etwa die auf eine angemessene Entlohnung, Organisation in Gewerkschaften, Bildung oder den Schutz der Familie. Arme und entrechtete Leute also. Plus zum Trost einige Erfolgsgeschichten wie die Muhammad Nizar Bitars in Istanbul, der syrisches Ethno-Food in einer eigenen Schnellrestaurantkette vertreibt.

Der Zynismus, der in diesen Entwicklungen liegt, hat eine Logik. In meinem Beitrag zu dem Buch habe ich darüber nachgedacht, inwiefern man das Verhalten der EU, aber auch das ihrer Teile, also vor allem der Mitgliedsstaaten, als charakteristisch für ein imperiales System verstehen kann. Selbstverständlich ist die Europäische Union kein Imperium; dazu fehlt ihr schon einmal der Imperator und auch die passende Ideologie, jedenfalls bislang. Aber sie hat doch ein Zentrum mit einem erheblichen Anspruch auf Lenkung der Geschicke; und sie behandelt, was für Imperien typisch ist, nicht alle möglichst gleich und gleichartig, sondern geht mit Unterschieden relativ einverständig um und differenziert zwischen verschiedenen Gruppen, Gebieten und Partnern so, dass Konflikte moderiert werden können und insgesamt besonders die Interessen der zentralen Bestandteile des Ganzen gewahrt bleiben: also, zum Beispiel und allen voran, Deutschlands. Unterschiede dürfen unter diesen Gegebenheiten weiter bestehen, schon weil Größe und Komplexität der Union eine Vereinheitlichung sehr erschwerten.

Für die Türkei ist nicht erst seit 2016, als das Flüchtlingsabkommen abgeschlossen wurde, dabei die Rolle des Glacis der Festung Europas vorgesehen, also der Fläche vor den Mauern, die so frei bleibt, dass man feindliche Annäherungen gleich erkennen und durch Sperrfeuer aufhalten kann. Schon Ende 2013 unterzeichneten die EU und die Türkei ein Rücknahmeabkommen, das inzwischen weitgehend vergessen ist: Danach darf die Union illegale Einwanderer, die sie über türkisches Territorium erreichen, in das Land zurückschicken. Die Türkei rechnete damals darauf, alsbald, „im Gegenzug“, in der Europäischen Union für ihre Bürger Visafreiheit zu bekommen. Daraus ist, aus verschiedenen und zum Teil, sofern sie nämlich mit der Etablierung der Diktatur Erdoğans zusammenhängen, sogar ganz guten Gründen bis heute nichts geworden. Währenddessen werden im Land strukturell Tatsachen geschaffen; jede syrische Familie, jeder afghanische Flüchtling, jede iraqische Zuwanderin in der Türkei festigt den Unterschied zwischen dem Innen und dem Außen der EU: denn die Integration des Landes bedeutete nun auch die der Menschen, denen „in deutschem Namen“, wie ja auch bei anderen Gelegenheiten gerne formuliert wird, das Recht auf Zuflucht verwehrt wird.

Das sind sehr schlechte Nachrichten für Flüchtlinge. Es sind allerdings auch schlechte Nachrichten für die Bürger der Europäischen Union. Deren Grundlage war ja einmal, gerade auch, als sie noch nicht so hieß, die Absicht, eine Zone europäischen Friedens zu bilden, der auf Wohlstand und einer Wertegemeinschaft beruhte und umgekehrt Wohlstand und menschliches Miteinander befördern sollte. Die betreffenden Werte waren (und sind) universalistisch. Deswegen, weil sie für alle gelten sollten, konnte die EU auch wachsen. Wenn nun aber der Tod auf der Flucht von Syrern und Sudanesen, Afghanen und Nigerianern eher hinnehmbar ist als die Zumutung, Überlebenshilfe zu leisten, dann sind auch die Rechte von EU-Bewohnern, EU-Bürgern, von Gruppen und Teilen des eigenen Landes in wirklicher Gefahr. Die Betroffenen merken es zum Teil sogar schon: griechische Rentner, polnische Lastwagenfahrer oder spanische Arbeitslose etwa. Insofern haben sogar die Populisten recht, die Migration und Flucht an der Wurzel von allen möglichen anderen Problemen entdecken. Es ist bloß genau umgekehrt, wie sie sagen: die Zurückweisung von Fliehenden, nicht ihre Aufnahme, zerstört die Grundlage europäischer Gesellschaft.