Die dunkle Kehrseite unserer westlichen Werte – Buchbeitrag von Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte)

Rolf Gössner (Foto: Michael Bahlo) ist Jurist, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, seit 2007 stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof Bremen. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte, außerdem Mitherausgeber des Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland (Fischer-TB) und der Zweiwochenschrift Ossietzky. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hans-Litten-Preis der Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ).

Rolf Gössner hat einen Gastbeitrag mit dem Titel „Die dunkle Kehrseite unserer westlichen Werte. Zur verdrängten Mitverantwortung Deutschlands, Europas und des Westens für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen“ für unser Buch verfasst, der hier in voller Länge zu lesen ist:

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

– Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union

Täglich werden wir mit der verzweifelten Lage von Geflüchteten und ihren Schicksalen konfrontiert. Fast täglich kommen Menschen auf der Flucht ums Leben. Die erschreckenden Nachrichten über das Massensterben lassen sich kaum ertragen, ohne diese grausame Realität mehr oder weniger zu verdrängen – und damit auch gleich die Fluchtbedingungen und Fluchtursachen, die mit uns und der europäischen Politik mehr zu tun haben, als uns lieb sein kann. Vor diesem Hintergrund bekommen die positiv besetzten Begriffe „Willkommenskultur“ und „westliche Werte“ einen mehr als bitteren Beigeschmack.

Dieses Buch – eine verstörende Dokumentation menschlichen Leids und einer humanitären Katastrophe – sollte uns dazu zwingen, verstärkt über die Flucht- und Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten nachzudenken wie auch über die vielfältigen Ursachen von Flucht und Migration. Dabei geht es um aktuelle Missstände, essentielle Zusammenhänge und historische Lasten, die im medialen Alltag und der herrschenden Politik allzu leicht untergehen. Dazu gehört,

  • dass Europa und der Westen insgesamt politische Mitverantwortung tragen für die vielfältigen Fluchtursachen, wie etwa Terror, Krieg, wirtschaftliche Ausbeutung und die Folgen des Klimawandels, die dazu führen, dass Menschen zu Millionen in die Flucht getrieben werden;
  • dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten politische Mitverantwortung tragen für die tödlichen Fluchtbedingungen auf den Wegen nach Europa, die täglich Menschenleben fordern;
  • und dass Menschen, die Krieg, Terror, Unterdrückung, Ausbeutung, Verfolgung, Hunger und Not mühsam entronnen sind und die Flucht überlebt haben, hierzulande nicht nur von vielen nicht willkommen geheißen werden, sondern allzu häufig auf Angst, Aggression und Abwehr stoßen, sich rassistischer Gewalt ausgesetzt sehen und erneut in Lebensgefahr geraten.

 

Tödliche Fluchtbedingungen durch Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten

Schon viel zu lange sind wir Zeugen einer der größten humanitären Katastrophen
und einer der wohl größten politischen und moralischen Herausforderungen unserer Zeit: dem täglichen, massenhaften Tod von Flüchtlingen an Europas Grenzen. Wir richten an jede/n von uns, an alle Zivilgesellschaften und Politiker Europas die Frage: Wie viele denn noch? Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor wir uns zu einer mutigen, zukunftsweisenden europäischen Lösung für die Rettung und Aufnahme von Flüchtlingen entschließen?

–  aus dem Aufruf von Unterstützer*innen von SOS-Méditerranée, 2015

Seit dem Jahr 1993 sind zehntausende Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen – UNITED for Intercultural Action dokumentiert inzwischen mehr als 51.000 Tote. Viele Flüchtende verdursten bereits auf ihrem Fluchtweg in der Wüste oder ertrinken im Mittelmeer. Allein 2016 ertranken im Mittelmeer fast 5.000 Flüchtende oder gelten als vermisst, so viele wie nie zuvor. Jedes Jahr werden laut UN-Flüchtlingshilfswerk weit mehr als 1.000 Menschen als vermisst oder verstorben registriert, 2021 mehr als 3.000, 2022 etwa 2.000. Nach Angaben der zivilen Seenotrettungsorganisation SOS Humanity hat die Zahl der von 2014 bis 2022 im Mittelmeer Ertrunkenen und Vermissten die Marke von 20.000 überschritten. Wie viele Menschen wirklich umgekommen sind, bleibt allerdings im Dunkeln.

Die Mittelmeerroute ist und bleibt die gefährlichste und tödlichste Meerquerung der Welt. „Das ‚Massengrab Mittelmeer’ ist die Schande Europas schlechthin“, so der ehemalige Berliner Verwaltungsrichter Percy MacLean. Es gehört tatsächlich zu den schrecklichen Erkenntnissen, auf die immer wieder mit Nachdruck aufmerksam zu machen ist: Die rigorose Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist direkt oder indirekt mitursächlich dafür, dass fast täglich Menschen auf der Flucht nach Europa sterben. Die Abriegelung der Balkan-Route, mit rasiermesserscharfem Stacheldraht hochgerüstete Grenzzäune, die Europäische Grenzschutz-Agentur Frontex, die noch massiv ausgebaut wird, das Grenzüberwachungssystem Eurosur, das bereits erheblich aufgerüstet worden ist und die Außengrenzen mit Satelliten, Drohnen und Sensoren überwacht, willkürliche Inhaftierungen, gewaltsame Abschiebungen und Zurückdrängungsaktionen – all dies trägt zur Abschottung Europas bei, mit der Folge, dass die Fluchtwege nach Europa immer riskanter und lebensgefährlicher geworden sind.

Eine vollkommen andere Behandlung erfahren dagegen die etwa eine Million Kriegsflüchtlinge aus der von Russland angegriffenen Ukraine seit 2022, die weder aufgehalten noch zurückgedrängt, sondern im Gegenteil in Deutschland bereitwillig aufgenommen werden; gemäß EU-Richtlinie müssen sie auch nicht das herkömmliche Asylverfahren durchlaufen und erhalten raschen Zugang zu Transferleistungen, Ausbildung und Arbeit. Dies gilt allerdings nicht für Menschen aus der Ukraine, die keinen ukrainischen Pass haben, aber ebenfalls vor dem Krieg in der Ukraine fliehen müssen. Angesichts solcher Ungleichbehandlung und Privilegien beklagen Hilfsorganisationen eine Zweiklassengesellschaft von Geflüchteten und fordern Gleichbehandlung.

Die sicherheitstechnologischen Abschottungsmaßnahmen zum „Schutz“ der „Festung Europa“ werden ständig ausgebaut; und sie werden flankiert durch jene „menschenverachtenden Flüchtlingsdeals“ (Pro Asyl), wie sie mit der autokratischen Türkei und mit afrikanischen Regimen geschlossen wurden und weiterhin werden, um Flüchtende schon vor den Toren Europas im Zweifel gewaltsam an ihrer Flucht nach Europa zu hindern. Auffanglager wie etwa in Libyen mit menschenunwürdigen Bedingungen sind die Folge. Zur Sicherung der scheinbar neuen Grenzen Europas, die längst in Afrika, der Türkei und auf dem Balkan entstanden sind, zahlen europäische Regierungen Unsummen von Steuergeldern – auch an Regime und Transitländer, die Menschenrechte mit Füßen treten und die für ihre Türsteherdienste gezielt mit Überwachungs- und Sicherungstechnologie aufgerüstet werden. Diese Politik der EU versperrt Asyl- und Schutzsuchenden sichere Fluchtwege und zwingt sie in ihrer Not auf teure, riskante und lebensgefährliche Routen und Transportmittel sowie in die Hände von skrupellosen Schlepperbanden.

Diese Abschottungspolitik der EU wird sowohl in der Bundesrepublik als auch europaweit zunehmend begleitet von einer fremdenfeindlichen und rassistischen Debatte sowie von einem ausgrenzenden Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: Grenzen dicht, „sichere Herkunftsländer“ küren, Lagerunterbringung und Langzeit-Isolierung in sogenannten Transit- und Ankerzentren und schneller abschieben. Zweifelhafte Ablehnungen von Asylanträgen sowie gewaltsame Abschiebungen – selbst von traumatisierten oder integrierten Menschen – in Krisengebiete oder in angeblich sichere Herkunfts- oder Drittstaaten sind keine Seltenheit.

Dass bei diesem menschengefährdenden und todbringenden Flüchtlingsabwehrprogramm tatsächlich der Schutz der Außengrenzen, die faktisch zu rechtsfreien Räumen geworden sind, im Vordergrund steht – voll zu Lasten des völker- und menschenrechtlich gebotenen Schutzes von Flüchtenden –, zeigen auch staatliche Aktionen gegen zivile Rettungsprojekte im Mittelmeer wie SOS-Méditerranée (Aquarius, Ocean Viking), SOS Humanity, Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, Jugend rettet, Mission Lifeline, Sea-Eye oder Lifeboat. Zu den staatlichen Blockade- und Sabotage-Maßnahmen, die einzelne EU-Mitgliedstaaten zu verantworten haben, gehören:

  • die Erschwerung und aktive Be- und Verhinderung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer – u. a. durch Abdrängen, Festhalten oder Beschlagnahmung von Rettungsschiffen oder durch Verweigerung der Ausschiffung Geretteter in sichere europäische Häfen unter Inkaufnahme von Todesfällen;
  • die Kriminalisierung freiwilliger Lebensretter*innen und humanitärer Organisationen als angebliche Schleppergehilfen oder wegen Menschenschmuggels – haltlose Verdächtigungen, die immer wieder zu Inhaftierungen und langwierigen existenzbedrohenden Prozessen führten;
  • die europäische Unterstützung und Kooperation mit der sogenannten Küstenwache Libyens und mafiösen Grenzschutzeinheiten, die Fliehende praktisch im europäischen Auftrag gewaltsam zurückhalten oder zurückholen und in Internierungslager verschleppen, in denen entsetzliche Zustände herrschen und schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden.

Allein 2022 wurden SOS Humanity zufolge mehr als 22.500 flüchtende Kinder, Frauen und Männer zumeist auf See abgefangen und nach Libyen verschleppt, woher sie geflohen waren (2021 sollen es mehr als 32.000 gewesen sein). Trotz massiver Kritik an solchen Menschenrechtsverletzungen hält die EU an der Unterstützung, Ausbildung und Finanzierung der libyschen Küstenwache fest. Auch der kaum kontrollierbaren Europäischen Grenzschutz-Agentur Frontex wird vorgeworfen, in illegale Pull- und Pushbacks (Rückholungs- und Zurückdrängungsaktionen) verwickelt zu sein. Frontex könnte, nein: müsste solche Aktionen verhindern – stattdessen leistete sie erwiesenermaßen Beihilfe und vertuschte solche Menschenrechtsverstöße. 2022 musste ihr Direktor Fabrice Leggeri schließlich wegen des Vorwurfs zurücktreten, illegale Pushbacks der griechischen Küstenwache vertuscht zu haben.

Die Politik der EU und einzelner ihrer Mitgliedstaaten, Geflüchtete primär als Sicherheitsrisiken zu betrachten und wie illegale Eindringlinge, ja Invasoren zu behandeln und zurückzuschlagen, verletzt fundamentale und universell geltende Menschenrechte, versperrt den Zugang zu Asylverfahren für Schutzsuchende und bricht Völkerrecht. Mit der Wahl der neuen rechten italienischen Regierung im Jahr 2022 spitzen sich die humanitäre Lage für Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer und die Bedingungen für die zivile Seenotrettung weiter zu. Das Sterbenlassen von Menschen vor und an den Außengrenzen Europas und die Beihilfe zu Verschleppung, Zurückweisung und Abschiebung von Geflüchteten in Verfolgerstaaten und Transitländern, in Zwangsarbeit und Versklavung, Folter und Tod gehören zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Politik, die doch so viel auf ihre eigenen Werte hält.

Hinzu kommen die katastrophalen Zustände an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla sowie ganz besonders in griechischen Flüchtlingslagern, die das Anti-Folter-Komitee des Europarates 2019 in einem Expertenbericht als „unmenschlich und entwürdigend“ kritisierte.

Rassistische Hetze und rechte Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten

Szenenwechsel: 1993 erlebte die Bundesrepublik eines der schwersten Verbrechen in ihrer Geschichte: den Solinger Brand- und Mordanschlag, bei dem fünf junge Angehörige der türkischstämmigen Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor diesem rassistisch motivierten Anschlag hatte – nach einer verantwortungslosen und agitatorischen Debatte mit Schlagworten wie „Asylantenflut“ und „Überfremdung“ – eine „große Koalition“ aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl demontiert. „Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen“klarer, als es später auf einer Mauer nahe des Anschlagsorts zu lesen war, kann man den Zusammenhang dieser beiden Ereignisse kaum formulieren.

Längst befinden wir uns wieder in einer äußerst prekären Phase, in der hoch gefährliche rechtspopulistische, nationalistische und fremdenfeindliche Debatten bis hinein in die Mitte der Gesellschaft stattfinden, Debatten um Überfremdung, Asylmissbrauch, Illegale und kriminelle Ausländer. Diese Angst- und Ausgrenzungsdebatten, die von AfD-Politikern und auch von Teilen der CDU/CSU geschürt und instrumentalisiert werden, befeuern vorhandene Bedrohungsgefühle und Verunsicherung, machen Fremde, Geflüchtete und sozial abgehängte Menschen zu Sündenböcken und sind letztlich geeignet, Ursachen und Verantwortlichkeiten für existierende gesellschaftliche Problemlagen und Krisen zu verdecken oder zu verdrehen. Und das mit fatalen Folgen: Menschen, die Verfolgung, Krieg, Terror und Tod mühsam entronnen sind, werden von vielen nicht nur nicht willkommen geheißen, sondern sie stoßen auch auf Ängste, Abwehr und Feindschaft und geraten erneut in Gefahr. Nach 2015 war angesichts der zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik geflüchteten Menschen zwar viel von „Wir schaffen das“ und „Willkommenskultur“ die Rede, doch diese weitgehend zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit, die auch und gerade staatliche Defizite zu kompensieren versucht, wird zunehmend begleitet und konterkariert von alltäglicher rassistischer Hetze und Gewalt. Eine besorgniserregende Entwicklung, die trotz ihrer blutigen Bilanz immer wieder aus dem öffentlichen Blick gerät.

Die fast täglichen Angriffe auf Asylbewerber*innen und andere Geflüchtete gehen weiter. Flüchtlingsheime brennen, Übergriffe auf Geflüchtete, ehrenamtliche Helfer und Moscheen reißen nicht ab. Nach Angaben des Bundeskriminalamts kam es 2015 zu fast 1.500 einschlägigen Gewalttaten, darunter mehr als 1.000 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte sowie Übergriffe auf Geflüchtete – das sind fünfmal mehr als 2014. 2016 kam es laut Bundeszentrale für Politische Bildung insgesamt zu mehr als 3.700 Straftaten und Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte, Geflüchtete und Helfer*innen – also zu zehn Vorfällen am Tag. Freital, Dresden, Tröglitz, Chemnitz und viele weitere Orte, wahrlich nicht nur im Osten des Landes, stehen für diese Gewalt. Von 2015 bis einschließlich 2021 dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung in einer gemeinsamen Chronik mit Pro Asyl mehr als 11.000 fremdenfeindliche Vorfälle, davon 285 Brandanschläge und fast 2.000 Körperverletzungen. Das heißt: Menschen, die dem Tod auf der Flucht entrinnen konnten und hierzulande Schutz vor Verfolgung, Folter und Tod suchen, müssen immer wieder um Leib und Leben fürchten.

Diese Entwicklung vollzieht sich vor einem mörderischen Hintergrund, denn in der Bundesrepublik sind seit 1990 mehr als 200 Menschen von rassistisch eingestellten Täter*innen umgebracht worden. Der Mordanschlag von Solingen war der vorläufige Tiefpunkt einer Serie weiterer rassistisch motivierter Attentate: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Quedlinburg, Cottbus, Lübeck und Mölln sind zu traurigen Fanalen geworden für diesen gewalttätigen Rassismus. Nach den NSU-Morden und -Terroranschlägen, die in der offiziellen Statistik zunächst als „organisierte Kriminalität“, aber nicht als politisch motivierte, rechtsextreme Straftaten gelistet wurden, mussten wir zehn weitere Tote hinzurechnen. 2019 ist der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Nazi ermordet worden – weil er Geflüchtete willkommen geheißen und eine „Politik der Weltoffenheit“ eingefordert hatte. Ebenfalls 2019 sorgte der antisemitische Anschlagsversuch in Halle auf eine Synagoge für Entsetzen, in dessen Verlauf der Täter zwei Menschen ermordete. Und 2020 sind bei dem rassistischen Terroranschlag in Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte umgebracht worden.

Im NSU-Komplex war es im Übrigen zu teils rassistischen Polizeiermittlungen („Soko Bosporus“, Ermittlungen gegen die türkischstämmigen Opfer-Familien), zu staatlichen Verstrickungen des „Verfassungsschutzes“ in Naziszenen und zu anschließenden skandalösen Vertuschungen gekommen. Wie überhaupt der staatliche Umgang mit rechter Gewalt und Nazi-Gruppen insgesamt lange Zeit von ideologischen Scheuklappen und strukturellem Rassismus geprägt war, die zu Ignoranz und systematischer Verharmlosung des Nazispektrums führten. Auch der Polizeialltag bleibt davon nicht verschont, denken wir nur an Racial Profiling – also das rassistische Sortieren von Menschen nach ihrem Aussehen – im Zuge anlassloser Polizeikontrollen. Tatsächlich reicht der xenophobe Nährboden nicht nur weit in die Mitte der Gesellschaft, sondern auch weit hinein in staatliche Institutionen wie Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei. Braune Netzwerke und Chatgruppen in Polizeibehörden haben wiederholt bundesweit Schlagzeilen gemacht – mit hunderten rechtsextremer Verdachtsfälle sowohl in der Bundespolizei als auch in etlichen Bundesländern. Gegen zahlreiche Polizeibeamte wird wegen rechtsextremer und rassistischer Umtriebe ermittelt. Wenn Teile der Polizei als Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols rassistisch agieren, ihre Machtbefugnisse missbrauchen und sich als anfällig für antidemokratisches, nationalistisches und rassistisches Gedankengut erweisen, besteht akuter Handlungsbedarf.

Institutioneller Rassismus und rechtsextreme Gewalt dürfen nicht länger gesellschaftlich verdrängt oder verharmlost werden. Wir müssen die Politik der „Inneren Sicherheit“, die Strafverfolgungs- und „Verfassungsschutz“-Behörden – die lange Zeit so grauenhaft versagt haben – verstärkt in Pflicht und Verantwortung nehmen. An einer kritischen Aufarbeitung des strukturellen Versagens sowie an einer grundsätzlichen Strukturreform und Neuaufstellung der Sicherheitsbehörden führt kein Weg vorbei, genauso wenig wie an einer rückhaltlosen Aufklärung und konsequenten Ahndung aller rechtsextremen Verbrechen und staatlichen Verstrickungen in gewaltbereite Naziszenen.

Nur eine wache und kritische Öffentlichkeit kann genügend politischen Druck entfalten, um Xeno- und Islamophobie zu ächten, institutionellen Rassismus anzuprangern, eine nachhaltige Wende im Umgang mit rassistischer Hetze und rechter Gewalt einzufordern und den Opferschutz zu stärken. Dazu gehört auch die Einrichtung externer unabhängiger Stellen beziehungsweise Polizeibeauftragte zur besseren Kontrolle der Polizei sowie die rechtsstaatliche Zügelung und demokratische Kontrolle des „Verfassungsschutzes“. Was die Ampelregierung seit 2022 mit ihrem „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ und dem „Demokratiefördergesetz“ in die Wege geleitet hat, ist zwar vom Ansatz her wichtig und richtig, jedoch längst nicht ausreichend, weil die geplanten Maßnahmen gerade die problematischen Strukturen und den je eigenen Korpsgeist der Sicherheitsbehörden außer Acht lassen.

Auf der Suche nach Fluchtursachen, ihren Urhebern und Profiteuren

Ein weiterer Problemkomplex von grundsätzlicher Bedeutung ist die westliche Mitverantwortung für Fluchtursachen. Mit ihrer Art von Flüchtlings- und Migrationspolitik, aber auch mit ihrer Art von Antiterrorkampf, Geo-, Wirtschafts- und Klimapolitik zeigen sich die wechselnden Bundesregierungen, die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten sowie die EU und der Westen insgesamt noch immer weitgehend ignorant gegenüber den tatsächlichen Ursachen und Gründen von Krieg, Terror, Gewalt, Ausbeutung, Klimakrise und den daraus folgenden Fluchtbewegungen, an denen westliche Staaten und Staatengemeinschaften schon lange maßgeblich beteiligt waren und es nach wie vor sind.

Schließlich spielt der Westen, spielten EU, USA und NATO eine desaströse Rolle speziell im Nahen und Mittleren Osten – mit Hunderttausenden toter Zivilisten allein seit 9/11. Dort warf und wirft die sogenannte westliche Wertegemeinschaft für ihre eigenen geopolitischen, ökonomischen und militärischen Machtinteressen systematisch die so hochgehaltenen eigenen Werte über Bord – oft genug getarnt als Antiterrorkampf, humanitäre Interventionen oder militärische Nothilfe. Mit ihren rohstoffsichernden Einmischungen, ausbeuterischen Handelsabkommen, verheerenden Wirtschaftssanktionen und Waffenexporten in Krisen- und Kriegsregionen sowie an Diktaturen, mit ihren völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen, mörderischem Drohnenbeschuss und Folter – mit all diesen neoimperialen Interventionen machte sich der Westen, auch die Bundesrepublik, mitverantwortlich für die Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen, mitverantwortlich für Ausbeutung, Armut, Folter und Tod, für den Zerfall ganzer Staaten (vgl. dazu Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München 2015, sowie Die scheinheilige Supermacht, München 2021). Zugespitzt formuliert: Mit dem „War on Terror“, besonders im Irak und in Afghanistan, aber auch in Somalia, Jemen, Libyen, Pakistan und Syrien, beförderte der Westen wahre Terroristen-Rekrutierungsprojekte und züchtete sich seine eigenen Feinde heran.

Bereits Ende 2015 haben Ex-Drohnenpiloten das US-Drohnenprogramm als „eine der verheerendsten Triebfedern des Terrorismus und der Destabilisierung“ bezeichnet – ein Mord-Programm, das auch über Ramstein, also über Deutschland abgewickelt wird, das ohnehin längst integraler Bestandteil des US-geführten „Kriegs gegen den Terror“ geworden ist: Von deutschem Boden aus – insbesondere aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen – organisier(t)en die USA Kriegseinsätze, Entführungen, Folter und extralegale Hinrichtungen von Terrorverdächtigen per Drohneneinsatz. Die Journalisten Christian Fuchs und John Goetz haben dies 2013 in ihrem Buch Geheimer Krieg. Wie von Deutschland aus der Kampf gegen den Terror gesteuert wird dokumentiert. Die Bundesrepublik nahm als NATO-Verbündeter am desaströsen US-Krieg in Afghanistan teil und leistete logistische Hilfe im völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak (mit mehr als einer Million Toten); sie war beteiligt an der Destabilisierung Libyens und den verheerenden Wirtschaftssanktionen gegen Syrien – einem Waren- und Personenembargo der EU, das maßgeblich zur Verarmung des Landes und zur Aushungerung der Zivilbevölkerung beitrug.

Darüber hinaus ist die Bundesrepublik mit ihren Rüstungs- und Kriegswaffenexporten an der Militäraufrüstung der autoritären Regime Ägyptens, Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei beteiligt. 2022 genehmigte die Ampel-Regierung laut Bundesministerium für Wirtschaft Exporte im Wert von mindestens 8,35 Milliarden Euro. Dies ist der zweithöchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik; nur 2021 war die Summe mit 9,35 Milliarden Euro noch höher (nach knapp 6 Milliarden im Jahr 2020). Mehr als ein Drittel dieser Kriegswaffen und Rüstungsgüter gehen 2022 an „Drittländer“: an die vom russischen Angriffskrieg betroffene Ukraine (2,25 Mrd.), aber auch unter anderem in die Krisenregion Südkorea und an Singapur, trotz dortiger schwerer Menschenrechtsverletzungen, sowie an die im Jemen kriegführenden Länder Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Ägypten. Dies geschieht, obwohl der Koalitionsvertrag eine restriktivere Rüstungsexportpolitik postuliert und in einem Eckpunktepapier des Bundeswirtschaftsministeriums vom Oktober 2022 zu lesen ist, künftig Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit größeres Gewicht beizumessen. Dafür soll ein Rüstungsexportkontrollgesetz sorgen, das für 2023 geplant ist – auch mit Regelungen, die künftig mehr Kontrolle, Restriktionen und Transparenz gewährleisten sollen. Angesichts der ausufernden Rüstungsexportpraxis und der 2022 beschlossenen Aussetzung des Verbots, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ist ein restriktives und scharfes Rüstungsexportkontrollgesetz zwar mehr als dringlich, doch eher unwahrscheinlich.

Wer mit Rüstungsexporten in Krisen- und Kriegsgebiete sowie an Diktaturen und mit sogenannten Antiterrorkriegen, mit Regime-change-Interventionen sowie mit – vorwiegend die Zivilbevölkerung schädigenden – Wirtschaftssanktionen dazu beiträgt, ganze Regionen zu zerstören und Staaten zu destabilisieren, erntet nicht etwa mehr Sicherheit, sondern früher oder später selbst Terror und Instabilität – auch bei sich zuhause in Europa und den USA. In dieser westlichen Befeuerung und Mitverursachung von Krieg und Terror, auch von Ausbeutung, Klimakatastrophen und Elend liegt letztlich die politische Mitverantwortung dafür, dass Millionen Menschen aus diesen Regionen in die Flucht getrieben werden: „Wir kommen zu euch, weil ihr unsere Länder zerstört.“ Diese herbe Einsicht gehört zum ganzheitlichen Verständnis der realen Kriegs-, Terror- und Fluchtursachen genauso wie die koloniale und postkoloniale Vorgeschichte mitsamt den vom Westen gestützten Nachfolge-Regimen.

All dies gehört zur überaus dunklen Kehrseite unserer hehren westlichen Werte. Es wird im Übrigen auch keinen nachhaltigen Frieden und keine soziale Gerechtigkeit geben ohne eine radikale Änderung der aggressiven Geo-, Wirtschafts- und Agrar(subventions)politik, der ausbeuterischen Welthandels- und Rohstoffpolitik sowie der bisherigen Sozial-, Umwelt- und Klimapolitik. Denn es sind gerade auch die kapitalistische Wirtschaftsweise und unser westlicher Konsum- und Lebensstil, die anderswo töten und Menschen zur Flucht zwingen.

Auswege aus der humanitären Katastrophe?

Wir wollen die illegale Zurückweisung und das Leid an den Außengrenzen beenden. (…) Es ist eine zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen. Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden. Wir streben eine staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung an.

Aus dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung 2021

Eine Umsetzung dieses überfälligen politischen Anliegens wird nicht ohne eine radikale Änderung der bisherigen EU-Flüchtlingspolitik möglich sein. Denn diese Flüchtlingspolitik ist nach wie vor darauf ausgerichtet, Fluchtwege nach Europa und an den Außengrenzen mehr und mehr zu verplomben – unter Verstoß gegen Menschenrechte und Völkerrecht. Nur durch die Einrichtung sicherer und legaler Fluchtwege und Korridore nach Europa für Schutzsuchende und mit einer fairen Verteilung, Behandlung und Integration von Geflüchteten innerhalb der EU und ihren Mitgliedstaaten kann die Situation zum Besseren verändert werden. Dasselbe gilt für starke Hilfen zur Verbesserung der Lebensgrundlagen und -bedingungen in den Heimatländern der Geflüchteten und in den Flüchtlingslagern ihrer Nachbarländer.

Zu einem zielführenden Forderungskatalog gehören auch menschenrechtskonforme Alternativen zu den milliardenschweren „Flüchtlingsdeals“ wie etwa mit der Türkei und den sogenannten Migrationspartnerschaften mit autokratischen Regimen in Afrika, mit denen sich Europa zu Lasten der Menschenrechte Flüchtende „vom Hals halten“ will und sich korrumpier- und erpressbar macht. Damit werden Flucht und Flüchtlinge bekämpft – nicht aber Fluchtursachen. Auf diese Weise sponsern und stabilisieren europäische Staaten mit EU-Aufrüstungshilfen autokratische Staaten, ihre Militär- und Repressionsapparate – und verschärfen damit Fluchtgründe, anstatt sie zu beseitigen.

Nicht zuletzt muss die Be- und Verhinderung ziviler Seenotrettung umgehend gestoppt werden, um der Pflicht nach internationalem Recht, Menschen aus Seenot zu retten, nachkommen zu können. Der Einsatz für Schiffbrüchige ist eine Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten, zumal sie an der katastrophalen Situation entscheidenden Anteil haben – und wir dürfen sie aus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Deshalb fordert etwa die zivile Seenotrettungsgesellschaft SOS Méditeranée, ebenso wie SOS Humanity und das Bündnis Seebrücke, schon lange von der EU, ein funktionierendes europäisches Seenotrettungssystem im Mittelmeer zu etablieren, das die Rettung des Lebens Schiffbrüchiger zum erklärten Ziel hat. Nur so lässt sich das Massensterben von fliehenden Menschen endlich beenden, nur so können Menschenwürde und universelle Menschenrechte sowie die schändlich verratenen Werte Europas endlich Geltung erlangen.

Dieser Beitrag basiert in Teilen auf der Eröffnungsrede, die Rolf Gössner, damaliges Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, anlässlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaillen der Liga an SOS Méditerranée und den Dokumentarfotografen Kai Wiedenhöfer Ende 2016 in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin gehalten hat.

Aktualisiert am 05.07.2023 (überarbeitete Fassung 3. Auflage)