Die Schriftstellerin und Übersetzerin Elisabeth Plessen (Foto: Marco Marelli) hat uns vier Gedichte zur Veröffentlichung auf unserem Blog und zur Unterstützung unseres Projekts geschickt.
Elisabeth Plessen arbeitete für Rundfunk und Fernsehen und gab 1974 Katia Manns „Meine ungeschriebenen Memoiren“ heraus. 1976 erschien ihr erster Roman „Mitteilung an den Adel“, für den sie den Deutschen Kritikerpreis erhielt. Weitere Romane: „Kohlhaas“ (1979), „Stella Polare“ (1984), „Der Knick“ (1997), „Das Kavalierhaus (2004) und 2010 „Ida“. 1980 begann ihre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit Peter Zadek. 1988 erhielt sie den Droste-Preis der Stadt Meersburg. 2010 gab sie den letzten Band von Peter Zadeks Autobiographie „Die Wanderjahre 1980–2009“ heraus.
Elisabeth Plessen lebt und arbeitet in Berlin und Lucca (Italien). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr neuer Roman „Die Unerwünschte“.
Das erste Gedicht „Welches Land, Freunde, ist dies?“ schrieb Elisabeth Plessen im Jahr 2008. Es zeigt, sagt sie, „wie differenziert man damals – 2008 – noch berichtete, von schieren Zahlen keine Rede. Der Tenor der kommenden Jahre ist hoffnungsloser bis hin zu Salvinis horrenden Maßnahmen im Sommer. Bis zum Schlussgedicht, deprimierend wie es ist – aus dem Jahr 2018. Es ist kurz. ‚Die Verheissung‘, das Gedicht aus dem Jahr 2015, ist noch lang, wie auch der Lobgesang auf Francesca Maria“ – das Kind einer nigerianischen jungen Frau, das auf einem Rettungsschiff geboren wurde, international in die Presse kam und die Herzen bewegte.
Zum Gedicht „Welches Land, Freunde, ist dies?“ hat Elisabeth Plessen Folgendes geschrieben:
Es war ein Wochenende, genauer, der Samstagnachmittag des 9. Juni 2008. Ich hatte Peter Zadek ins Luccheser Krankenhaus gefahren. Er brauchte seiner Anämie wegen eine Bluttransfusion. Unser umsichtiger Arzt hatte sie ihm verschrieben. Ich saß an seinem Bett, sah das Blut langsam und stetig in die Vene tropfen. Da ich in den letzten Nächten kaum geschlafen hatte, sehnte ich mich nach einem Kaffee. Weil ich eh nur wartete, ging ich in die Bar des weitläufigen Krankengeländes, meinen Macchiato zu trinken und Augen und Kopf eine Weile auf nichts zu richten. Ich stand an dem langen Tresen, schaute auf die trockenen Panini, das trostlose Gebäck. Auf buntes Spielzeug, jede Menge Barbie-Puppen. Ein paar Tische und Stühle in der Ecke. Niemand saß dort. In der Mitte der Bar ein Regal mit Zeitungen und Comics. Ich spürte die Leere im Kopf wachsen, wollte sie aber nicht in Angst übergehen lassen, mich viel eher an etwas klammern. Da fiel mein Blick auf das Titelfoto der Unità. Schockartig holte es mich aus dem blues zurück.
Der Artikel beschrieb ausführlich, wie am Vortag bei hohem Meer zwei Boote, im Verbund unterwegs, aneinander schlagend, zu zerschellen drohten. Dann trennte sie der Wind. 27 Flüchtlinge überlebten die Reise, 13 starben. Der junge Mann einer von ihnen. Der Reporter erwähnte auch die Naivität und Träume der Angekommenen – mit ihrer Frage: ‚Ist dies Deutschland?’ Als ich das las, schoss mir Violas Frage ‚Welches Land, Freunde, ist dies?’ nach ihrer Rettung aus ihrem Schiffsunglück durch den Kopf: Shakespeares Wortspiel zwischen Illyrien und Elysium. Viola wollte ins Elysium, wo ihr Bruder war: Vielleicht ertrank er nicht. Gelandet war sie aber in Illyrien. Ich hatte Was ihr wollt gerade übersetzt. Die Aufführung fand aus traurigen Gründen leider nicht statt.
Am 8. Juni 2008 war die Flucht aus dem Ungewissen ins Ungewisse für wache Reporter wie den, der für die Unità arbeitete, längst mitten im Gang, wie ich nun erfuhr. Er beschrieb sogar Details: wie die Lebenden in den Booten sich nicht trauten zur Erleichterung der Fracht die Toten über Bord zu werfen, unsicher, ob sie aus Erschöpfung, Durst und Hunger nicht nur scheintot waren. Der historische Bericht über das Floß der Medusa fiel mir ein. Ein Horror nach dem anderen.
Ich kaufte die Zeitung und erzählte Peter nichts von dem Erlebnis in der Bar. Es war nicht der richtige Augenblick, außerdem das Thema Tod zwischen uns mehr oder weniger tabu. Wir suchten ihm so oder so jeder für sich in der Arbeit näher zu kommen. Zurück im Haus setzte ich mich an das Gedicht über den Unbekannten, der mich nicht losließ. Die Sinnlosigkeit seiner Existenz gemessen an seinem unsinnigen Ende, diese Verschwendung von Leben, andererseits mein Schmerz, meine Ohnmacht, meine Wut.
Lampedusa – die größte der Pelagischen Inseln und der Name des Autors des Gattopardo, des so großen Romans, von prominenten italienischen Verlagen abgelehnt, bis schließlich Feltrinelli das hinterlassene Manuskript herausgab – diese Assoziationen rückten seit dem Foto in den Hintergrund. Seitdem ist ‚Lampedusa’ für mich mit der ständig wachsenden, ins Uferlose schießenden Zahl der Bootsflüchtige aus vieler Herren Länder, ihrer Schicksale, ihrer Toten und der katastrophalen Handhabung ihres Ansturms auf dem europäischen Festland verbunden. Das Damals des 8. Juni klingt nach fernen Tagen, wo es bloß in sich kehrt gemacht hat und immer größer werdend ins Heute sich ergießt und das Heute längst auf internationaler Basis weniger und weniger und das nicht einmal nur aus Trägheit oder Fremdenhass mit diesem explodierenden Exodus fertig wird. Damals hatte die Tragödie für mich bloß ein Gesicht.
Welches Land, Freunde, ist dies?
(zum Titelfoto der Unità, 8. Juni 2008)
Ein junger Afrikaner
rücklings
in zerfetztem rotem Hemd
auf Lampedusas Stein
geworfen
wie malerisch der Schöne
wie malerisch das Elend
dieses Flüchtlings
da es zu Ende ist
was hat ihn seinen Traum gekostet
was sein Traum
was hat ihn sein Tod gekostet
was seinen Tod
wen ließ er zurück
der nicht Antwort gibt
wie die vielen seinesgleichen
die das Meer sich nahm
glitzerndes Europa
du verbotenes Land
Lobgesang auf Francesca Marina
(Mai 2015)
1
Kleine schwarze Braut des Meeres
du königliches Baby
italienischer Matrosen
stolz in ihrem Vaterglück
dein Gesichtchen ohne Argwohn
in der Aureole weißen Tülls
acht Stunden hast du dich ans Licht gekämpft
nicht wissend wo
heraus aus der warmen Wasserhöhle deiner Mutter
nicht wissend in welches Land inmitten anderer
die der Kraft des Meers erlagen
hast alle Todesstöße überlebt
auf der Bettica
im Canale di Sicilia
2
den Himmel sehen von einem Kutter aus
der vor der Küste fischt
das Meer vom überfüllten Kahn
den Schlepper steuerlos verlassen
den Himmel von einem Schlauchboot aus
das Meer vom überfüllten Boot
das Meer vom Megakreuzer aus
der weit leuchtet in der Nacht
die Nacht der Fernglaswelt
und ihres entertainments ist sicher
auch bei hoher See
3
decostare heißt sich entfernen
von allem festen Land
das Meer nun küstenlos
nur offne See und Horizont
sieh hin
welch Trauma ertrinkt der jüngere Bruder
hör die Schreie seiner Schwester
die ihn ertrinken sieht nicht retten kann
das Boot von Libyen unterwegs
zu voll beladen
die wenigsten sind Schwimmer
jetzt bist du geboren Francesca
meerumschäumt bekränzt
in üppig weißer Gaze
auf dem harten Deckstuhl
kleine sizilianische Madonna
gern strich ich mit dem Finger
über deinen breiten Nasenrücken
und deinen vollen Mund
sei willkommen Baby der Matrosen
auf deinem Weiterweg
4
Lob den Matrosen
wo die Wellen nicht wussten
dass du ein Mensch warst
jüngster Flüchtling
von sechshundertzweiundfünfzig anderen
die der fünfte Mai wie Fische
aus Senegal Tschad Sudan und Bangladesch
Togo Ghana Eritrea Mali und Nigeria
der Bettica ins Netz trieb
Lob auf deine Mutter aus Nigeria
die die Reise des offnen Ausgangs
wagte für sich und dich
dein Vater ungenannt unbekannt
zurückgeblieben wer weiß wo
Identität vertuscht
verschluckt
Fingerprints? – No, Sir?
von Boko Haram massakriert
ein Vergewaltiger
wo enden Fragen bei dieser Völkerflucht
dem neuen Exodus der Wanderung der Jungen
Kinder der Migration der Zukunft
auf der Suche nach dem Bleiberecht
dem Stückchen Frieden unter seinen Füßen
Nigeria liegt nicht am Mittelmeer
auch nicht Afghanistan und Tschad
und nicht Ghana Togo Eritrea
wo begann die Odyssee der 652
die die Bettica am fünften Mai an Bord nahm
und wann der mühevolle Weg
der Schwangeren nach Europa
deren Kind jetzt Francesca heißt
Franca die Freie
Marina die Küste
Weg oder Trug in eine Zukunft
wer kann das sagen
Francesca Marina
kleine Venus
vom Nabel des Todes geschnitten
welch Zufall am Geburtstag meines Vaters
du vom ersten Schrei hast einen Namen
Erstgeborene auf dem Schiff der Küstenwache
wer der profughi mit dir hat das
der Begeisterung auslöst
sie teilen sich die Anonymität der Zahl
wie Wellen schluckt sie ihre schiere Menge auf
und treibt sie weiter
jagt sie weiter
es sei denn einer nähme sich ihres Schicksals an
und erfragte das Erzählenswerte
bis in die Kenntlichkeit
wir explodieren in Milliarden
ob es irgendwo im Meer noch einen Toten
und tausend Tote gibt
spielt die Rolle einer Tagesmeldung
ich sage das voll Bitterkeit
Zahlen gebären Zahlen
Zahlen zählen Zahlen
Algorithmen Algorithmen
Mütter gebären aber Kinder und die schreien
die Toten haben keinen Namen
weder Gewicht noch Stimme
dem Ansturm all der die leben wollen
täglich unterwegs auf Totenschiffen
nach Europa
scheinen wir schon nicht gewachsen
trotz unserer hehren Werte
sei willkommen kleine Francesca
sei an Europas Küste willkommen
erinnere dich der Hindernisse
Die Verheißung
(2015)
Sie kommen aus den Bergen
auf tagelangen Märschen
sie kommen aus den Ebenen
durch Wüsten
ein schwarzes Korn der Junge
in des Sands Unendlichkeit
sie überwinden Mauern
überklettern Stacheldraht
und meterhohe Zäune
sie flüchten aus den Lagern
rund ums Meer
das Mussolini mare nostrum nannte
sie fliehen aus Elendshütten
zerschossenen Häusern Dörfern
Städten Ländern
aus Syrien dem Libanon aus Lybien
Tunesien Marokko dem Sudan
aus Mali dem Senegal und Tschad
der frostige Katalog reicht über Palästina
bis Afghanistan
und ostwärts weiter
entfliehen Bürgerkrieg und religiösem Terror
ich schreibe sie
hilflos angesichts des Andrangs dieser Vielen
ein jeder hat ein Leben
ein Recht auf sein eigenes Leben
sein Glück und seine Grenzen
Tausende mittlerweile jedes Jahr
Hunderttausende im vergangenen Jahrzehnt
2015 mehr…
das Aufgebot zum Welt-Feldzug
gegen die Reicheren
dem Welt-Auszug
dem Weltumzug in Nussschalen
sie wollen nach Europa
sie kommen auf uns zu
sie fahren übers Meer
sie fahren auf uns zu
sie kommen
mehr und mehr
(von Schleppern geschröpft) in die Boote gepfercht
mit einem Handy als einzigem Kompass
der Sonne preis
Stürmen erlegen
ohne Wasser nahrungslos
und ohne hygienischen Behelf
krepieren sie auch aneinander
im Kopf das eingeredete Paradies
das glitzernde Europa
Habenichtse mit der Bittgebärde um Asyl
Ritter ihres Glücks
die Abenteurer
halbwüchsige Ernährer wachsender Verwandtschaft
in die Welt gesandt von gottergebenen Müttern
wie in der Waldeinöde
Parizal von Herzeloyde
Ausgeplünderte
Junge Männer junge Frauen Babys
elternlose Kinder
die Ärmsten und die Hoffnungsvollsten
papierlos am Ende als letzte Protestgebärde
vernichten sie die eigne Spur
verschlucken sie
als ob eine Namenlosigkeit und Alterslosigkeit
vor Ausweisung beschützte
besessen von der Illusion
die Zukunft heißt
Europa spürt die Massen
die da kommen und schließt die Tore
obgleich es wie einst der erste Garten
uferlose Tore hat
Das Meer hat Platz
Unzählbare mittlerweile auf dem Weg
von einem Kontinent zum anderen
nimmt es sich
da die Profiteure der Not der Kriege
die Schraube enger ziehen
fällt für Neptun und Proteus mehr ab
Das Meer hat Platz für viele Tote
achthundert forderte es in fünf Tagen
vom ersten Schiffbruch dreihundert
in der Strada di Malta überlebten neun
vor Tripolis schwimmen wie soll ich sagen
ungezählt
mir fehlt das Wort
junge Frauen obenauf im Wasser
dort wo sich die Armee und rivalisierende Milizen
Gefechte liefern
und der Massenmord auf See geschah
zwischen Malta und Ragusa
als vier Schlepper alle Flüchtlinge
auf offner See wiederum auf ein kleineres Boot
umluden und die Meuterei ausbrach
da rammten sie das volle Boot
und sahen zu wie die Verlorenen ertranken
bevor sie beidrehten und Kurs nahmen
auf den Heimathafen in Ägypten
Wir streiten da wir sie essen wollen
um das Recht der Tiere
auf dem Weg zur Schlachtbank
um mehr Raum auch für die Hühner in den Legefarmen
auch das ist gut und schön
Die auf den Booten zu uns kommen
landen an wie Zombies
statt sie mit ihren Babys heiter zu empfangen
sperren wir sie ein
desinfizieren sie wie im KZ
Feinde andersfarbige Teufel
Räuber und kriminelle auf unseren Wohlstand aus
wo sie ihn mehren könnten
zu gemeinsamem Nutzen
Geht es nur um den homo oeconomicus
ich dachte die Menschen
die Millionen abschlachteten
und auslöschten
vergasten als ich geboren wurde
gehörten der Vergangenheit an
in welcher eng gezogenen Welt lebe ich wieder
auf meine Kindheit rede ich nichts mehr heraus
Wenn das Meer all der Namen seiner Ertrunkenen
sich plötzlich entsänne
von der Sintflut herauf
als in den Baumkronen Delphine schwammen
die einstmals tyrrhenische Schiffer waren
und erloschen die Menschheit
zwei ihrer Spezies ausgenommen
und sie alle aus den Jahrtausenden
auferstünden vom Grund
die Millionen und Abermillionen
wüchse ein sechster Kontinent aus der Tiefe herauf
wär das die Verheißung
Hamed aus Palästina hat den Mord überlebt,
einer von neun
die Pegasus ein Handelsschiff unter panamitanischer Flagge
sichtete seinen Arm
winkend ohne roten Fetzen wie auf dem Floß der Medusa
jetzt ist er nach Norwegen unterwegs
das den Eltern gegebene Versprechen einzulösen
der Familie Geld zu schicken
Landnot
(November 2018)
geschlossene Häfen
auf Halde das Wachschiff
mit allen Geretteten
Ich allein bestimme
twittert der Innenminister
aus dem Urlaub am Meer
im Amt neu bietet er
die gefangenen Eritreer feil in Europa
zehn Tage des Tauziehens
Feilschens der Seelennot
zuerst stirbt das Recht
dann stirbt der Mensch
die katholische Kirche gibt sich den Ruck
und nimmt ein Kontingent auf
lang her da war sie Verfolgten Asyl
kein Flüchtling will in ihrer Obhut bleiben
die erste Flucht löst weitere aus
die vorerst letzte in die Illegalität
so war es nicht geplant