Namenlose: Gedanken zum Gedenken von Bernd Mesovic (PRO ASYL)

Sein Gesicht wird mit der deutschen Debatte um Flucht und Migration in Verbindung gebracht wie wenige andere: Seit nahezu vier Jahrzehnten setzt sich Bernd Mesovic (Foto: PRO ASYL / Shirin Shahidi) für Geflüchtete ein. Er ist Leiter der Abteilung Rechtspolitik bei PRO ASYL, verantwortlich für die Pressearbeit der Organisation und befasst sich mit der Analyse asylrechtlicher Praxis sowie der Situation in den Herkunftsländern. Das Motto der wichtigsten Organisation für Geflüchtete in Deutschland, die unser Projekt unterstützt, lautet: „Der Einzelfall zählt.“ Für unser Buch hat Bernd Mesovic seine Gedanken zum Gedenken an Namenlose aufgeschrieben. Hier sein Beitrag in voller Länge.

„Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten, dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“

Diese Notiz von Walter Benjamin steht eingraviert auf einer Glasplatte am Ende eines Korridors aus Stahl, der über das Meer ragt. Die Glasplatte verschließt den Korridor, setzt der Bewegung ein Ende, lässt jedoch den Blick auf Meer und Bucht zu.

Der Gedenkort „Passagen“, gestaltet von Dani Karavan, erinnert an den Philosophen Walter Benjamin, der sich im nahen Port Bou auf der Flucht vor der Gestapo das Leben nahm, als ihm die Tatsache eröffnet wurde, dass ihm die Einreise nach Spanien verweigert werde. Doch das 1994 eingeweihte Denkmal ist – wie alle große Kunst – viel mehr. Es ist eben jener Versuch, mit dem Gedanken Benjamins derer zu gedenken, die als nicht Berühmte im Mahlstrom der Geschichte untergegangen sind. Erst dieses Gedenken schafft die Geschichte. Nur was im Gedächtnis bewahrt wird, ist Geschichte, die mehr ist als eine Aneinanderreihung großer Namen und eine zumeist von Siegern geschriebene Ereignisgeschichte.

Wer den Gedenkort gesehen hat, besser gesagt: im Denkmal gewesen ist, wird sich mit dem Blick aufs Meer nicht des Eindrucks erweh- ren können, dass der chancenlose Blick ins weite Blau das Gedenken an die Hoffnungen vieler Flüchtlinge einschließt, die in der Geschichte den Weg übers Meer versucht haben, sich in seeuntüchtigen Booten oder mit Hilfe von HelferInnen an Land gerettet haben oder mit ihren Hoffnungen gescheitert und gestorben sind. Die oft provisorisch wirkenden Grabstätten auf den Inseln und Küsten des Mittelmeers, entlang der heutigen Fluchtrouten, sind ebenfalls Gedenkorte, oft auch der Namenlosen, deren Überreste nicht identifiziert wurden.

Menschen, die Angehörige verloren haben, finden es oft besonders schwierig, mit ihrer Trauer zu leben, wenn es keinen Ort des Gedenkens gibt, den man besuchen kann, weil die Toten verschollen sind. Denkmäler als Gedenkorte sind, wenn sie nicht in banaler Pflichterfüllung entstehen, Versuche, den Verlust begreifbar zu machen.

Auch Totenlisten, wie sie seit vielen Jahren geführt werden, sind ein Versuch, Namen und die Erwähnung der unbekannt gebliebenen Toten gegen das zu setzen, was man als politisch erwünschtes Vergessen bezeichnen muss. Viele hätten gerettet werden können, durch adäquate Seenotrettung, organisiert von denen, die eigentlich dafür verantwortlich sind, die Anrainerstaaten des Mittelmeeres; durch die Bereitschaft Europas, solches zu unterstützen und sich an der Aufnahme der Geretteten zu beteiligen; und, wenn man weiter ausgreifen will: durch den ernsthaften Versuch, Fluchtursachen in den Herkunftsregionen zu bekämpfen – und nicht diejenigen, die den Weg an die Küste und in die Boote nach oft unsäglichem Leiden geschafft haben.

Die Toten mahnen – auch eine solche Formulierung ist eine historische Konstruktion. Sie erinnern uns daran (genauer: Wir erinnern uns), dass dieses Europa, dass sich gern für die „Erfindung“ der Menschenrechte feiern lässt, es fertiggebracht hat, über lange Zeit hinweg dem Sterben auf dem Meer ungerührt zuzusehen. Man mag es zynisch eine Kultur des Sterbenlassens nennen, die dann von eher halbherzigen Rettungsak- tionen abgelöst wurde, bis es der Einsatz der freiwilligen nichtstaatlichen Seenotrettungsinitiativen war, der deutlich gemacht hat, was man tun kann, wenn man will. Europa hat es fertig gebracht, die Kernverpflichtung aller Schiffsbesatzungen, die Seenotrettung, zu zerreden, zu diskreditieren und Besatzungen, die ihre menschenrechtliche Pflicht tun, unter Verdacht zu stellen und zu kriminalisieren. Mit den aktuellen Versuchen, Rettungs- schiffe an die Kette zu legen, gegen die NGOs zu ermitteln, Schiffe am Einlaufen in die nächsten sicheren Häfen zu hindern oder ihnen die seerechtliche Zulassung zu entziehen, ist eine neue Stufe erreicht, die weit mehr ist als unterlassene Hilfeleistung, nämlich die Verhinderung effektiver Rettung gegen die Vorschriften des internationalen Seerechts.

Es geschieht dieses alles nicht zum ersten Mal. Daran sei hier erinnert, ist es doch seltsam, dass weniger als 40 Jahre nach der Flucht der boat people aus Indochina sich offenbar kaum jemand an deren Schicksal erinnert fühlt. Im September 1978 begann die Flucht Hunderttausender über das südchinesische Meer in seeuntüchtigen Booten, bedroht von Piraten. Die meisten Zielstaaten versuchten zunächst, die Boote nicht anlanden zu lassen, machten zumeist die Aufnahme der ankommenden Flüchtlinge in Drittstaaten (Resettlement) zur Bedingung, sie vorläufig bleiben zu lassen. Handelsschiffe fuhren ob dieser Unklarheiten an sinkenden Schiffen vorbei, mussten sie doch befürchten, Gerettete nirgendwo an Land bringen zu können. Nach UNHCR-Schätzungen sollen auf hoher See in der Region binnen weniger Jahre zwischen 200.000 und 400.000 Menschen umgekommen sein. Bedingt durch die extrem schlechten Bedingungen in den Erstaufnahmestaaten dürften noch mehr Flüchtlinge nach der „Rettung“ gestorben sein.

Es war dies aber auch die Stunde der privat organisierten Seenotrettung durch zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich in Deutschland etwa mit der Cap Anamur verbindet, die allein etwa 11.000 Menschenleben rettete. Da die Niederlage der USA im Vietnamkrieg als eine Episode des Kalten Krieges gesehen wurde, bestand eine relativ große Bereitschaft, Aufnahmeplätze zur Verfügung zu stellen. Allein zwanzig westliche Staaten nahmen mehr als 620.000 Indochinaflüchtlinge im Wege des Resettlements auf. Das Zusammenwirken mehrerer Faktoren brachte so eine Lösung für einen relativ großen Teil der Flüchtlinge, die heute angesichts der viel geringeren Größe der Fluchtbewegung über das Mittelmeer und gleichzeitig geringer Aufnahmebereitschaft in den EU-Mitgliedstaaten zu denken gibt.

Doch vergessen ist auch: Die Aufnahme der boat people war in Deutschland früh umstritten. Nicht nur hier begann eine Debatte darüber, ob ihre Aufnahme nicht gerade dazu motiviere, sich auf die gefährliche Reise über See zu begeben. Flüchtlingsaufnahme und Asyl erlebten 1980 eine erste Karriere als Problemthema in Bundestagswahlkämpfen. Wir erkennen das Muster: Fluchtmotive, die zunächst als unmittelbar nachvollziehbar galten, wurden hinterfragt, die Tätigkeit der Seenotretter in Frage gestellt. Man scheute sich nicht, angesichts der dramatischen Bilder von sinkenden Flüchtlingsbooten die Tragfähigkeit des eigenen Staatsschiffes metaphorisch in den Raum zu stellen: Das Boot ist voll.

Das Boot ist niemals voll gewesen, wie wir wissen. Die Indochinaflüchtlinge sind derart integriert, dass offenbar nicht einmal sie in der aktuellen Debatte zu hören sind, die Überlebenden eines Exodus, den viele namentlich Bekannte wie Namenlose nicht überlebt haben. Immerhin: Seit 2009 gibt es einen Gedenkstein der vietnamesischen Flüchtlinge in Deutschland in Hamburg, auf dem auch aller Flüchtlinge gedacht wird, „die auf dem Weg in die Freiheit ihr Leben gelassen haben“. Und in Troisdorf steht eines der Flüchtlingsboote, aus dem Menschen durch die Cap Anamur gerettet worden sind.

Die Liste der Toten ist also auch eine Fortschreibung der ungeschriebenen Liste der Schiffbrüchigen aus den Katastrophen der Geschichte. Rettung ist die Aufgabe. Zu ihrem Gedächtnis.