Einer aus 69: Jamal Nasser Mahmoudi (Porträt aus dem Buch)

Heute Abend soll wieder ein Abschiebeflug nach Afghanistan starten, wie der Bayerische Flüchtlingsrat meldete. Was die Abschiebung im Einzelfall bedeuten kann, hat der Suizid eines jungen Mannes im Juli dieses Jahres in Kabul gezeigt. In unserem Buch haben wir ihn porträtiert: Sein Name war Jamal Nasser Mahmoudi. Er war einer der 69 Geflüchteten, deren Abschiebung die Geburtstagsfreude unseres Innenministers gesteigert hat.

 

Von Kristina Milz

„Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag – das war von mir nicht so bestellt – sind 69 Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“

Bundesinnen- und Heimatminister Horst Seehofer sagte dies bei der Vorstellung seines lange angekündigten und mit Spannung erwarteten „Migrationsplans“ in Berlin. Zuvor hatte er die Arbeit der Großen Koalition tagelang mit seiner Rücktritts„drohung“ und schließlich mit der wahrgemachten Drohung seines Nicht-Rücktritts lahmgelegt. Seehofer, offenbar auch in den angespanntesten Situationen stets für einen Scherz zu haben und mindestens genauso gut informiert, feiert seine Geburt jährlich am 4. Juli. Der Abschiebeflug, über den er sprach, ging aber bereits am Tag zuvor. Für eine afghanischstämmige Familie im Iran ist der 4. Juli sicher kein Tag zum Feiern mehr: Es ist der Todestag von Jamal Nasser Mahmoudi, einem 23-jährigen Mann, der lange in Deutschland lebte, bevor die Politik sich entschied, ihn in die Hauptstadt Afghanistans zu bringen.

Jamal war einer der 69 Geflüchteten, die am 3. Juli im Flieger nach Kabul saßen. Auch wurde er nicht „rückgeführt“, wie Seehofer es bezeichnete. Jamal hatte Afghanistan davor nämlich noch nie wirklich gesehen. Man kann nur dorthin zurückkehren, wo man schon einmal gewesen ist. Afghanistan, Jamals „Herkunftsland“, war ihm nur aus Erzählungen von Familienmitgliedern bekannt. Medienberichten zufolge stammt seine Familie ursprünglich aus der Provinz Balch im Norden Afghanistans, eine bedeutende Wallfahrtstätte des Landes, nur wenige Kilometer entfernt von Masar e-Sharif, ganz in der Nähe von „Camp Marmal“, des größten Feldlagers der deutschen Bundeswehr im Ausland. Wie gut Jamal über Afghanistan und den Krieg dort Bescheid wusste, wissen wir nicht. Jamal ist als Kind von Geflüchteten im Iran aufgewachsen. Seine gesamte Familie ist dort. Er hat das Land vor seiner Flucht nie verlassen.

Viele der Menschen, die nach Afghanistan abgeschoben werden, kommen eigentlich aus dem Iran. Das wissen die wenigsten und doch ist es wichtig. Sie verlassen in Kabul das Flugzeug und betreten den Boden eines Landes, das ihnen völlig fremd ist. Sie haben dort keine Verwandten. Keine Freunde. Diese Situation ist vergiftet in einer Gesellschaft, die von Stammesstrukturen geprägt ist. Es gibt keinen Ort, an den sie gehen können. Sie wissen nicht umzugehen mit der Kultur, auf die sie treffen. Sie sind noch gefährdeter als die gebeutelte afghanische Durchschnittsbevölkerung, für die terroristische Anschläge zum Alltag gehören.

„Er hat mit niemandem gesprochen und war am liebsten mit sich alleine“, schilderte ein anderer der Männer, die am 3. Juli nach Afghanistan abgeschoben wurden, Jamals Verhalten in der Übergangsunterkunft in Kabul der Nachrichtenagentur dpa. Für die Dauer von zwei Wochen bietet die afghanische Regierung in Kooperation mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) den Menschen, die aus Europa kommen (müssen), die Möglichkeit, in einem Hotel zu bleiben.

Jamal wurde also im Hotel Spinsar untergebracht. Er habe ihn um eine Zigarette gebeten, sagte der andere junge Mann aus dem Hotel der deutschen Nachrichtenagentur. Aber auch da habe er nicht reden wollen und sei nur unruhig umhergelaufen. Jamal erhängt sich in diesem Hotel. Noch am selben Tag, an dem er dort ankommt.

„Ich habe Traurigkeit gesehen in den Augen von den Menschen hier nach seinem Tod“, wird der andere zitiert – „Wir alle hier haben sowieso kein Glück. Aber er war ein Mensch, und er muss Träume gehabt haben, und dann hat nichts geklappt.“

„Möge er in Frieden ruhen. Ich würde nie so weit gehen; Selbstmord ist eine Sünde im Islam. Ich und meine Freunde, die abgelehnt wurden, wollen natürlich auch nicht abgeschoben werden. Wir haben uns mit viel Mühe nach Deutschland durchgeschlagen, um ein neues Leben aufzubauen“, sagte Jawad Anwari der Deutschen Welle. Der teilte in der Woh- nunterkunft Lademannbogen im Hamburger Stadtteil Hummelsbüttel mitten im Industriegebiet zwei Tage lang sein Zimmer mit Jamal. Die Unterkunft besteht aus einem großen roten Backsteingebäude, in dem die alleinstehenden Männer leben, sowie aus Wohncontainern für die Familien. Die jungen Männer warten dort mehr als dass sie leben. Im Minutentakt fliegen Flugzeuge über die Anlage hinweg, es ist nicht weit zum Flughafen.

In den zwei Tagen, in denen die beiden jungen Männer ein Zimmer teilen, wirkt Jamal auf seinen Mitbewohner sehr besorgt und unruhig. Fast alle Geflüchtete sorgen sich dort wegen einer stets möglicherweise bevorstehenden Abschiebung. Dass Jamal besonders verzweifelt war, bestätige sein Suizid, sagt Jawad.

Jalal Ahmadi, ein anderer junger Mann, ebenfalls abgelehnter Asylsuchender, der Jamal vier Monate lang in der Unterkunft erlebte, sagte: „Jamal hatte viele psychische Probleme.“ Stephan Dünnwald, der Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrates (BFR), betonte in einer Pressemitteilung wenige Tage nach Jamals Tod seine Fassungslosigkeit angesichts des Umgangs mit psychisch Labilen, gegenüber „einer Situation, in der Abschiebung fast als Selbstzweck erscheint“. Mehrere psychisch belastete Menschen allein aus Bayern seien an diesem Tag nach Kabul abgeschoben worden, „eine Person von einer psychiatrischen Klinik und laufender stationärer Behandlung an die Polizei ausgeliefert, eine andere Person trotz schwerer Selbstverletzungen nur notdürftig versorgt und zum Flug gebracht“.

Ob Jamal in psychologischer Behandlung war, weiß Jalal Ahmadi nicht. Auch er teilte sich eine Weile das Zimmer mit ihm in Hamburg. Es sei aber offensichtlich gewesen, dass „etwas mit ihm nicht stimmte“. Jamal habe oft mit anderen Bewohnern und auch mit Freunden Streit angefangen.

Jamal kam 2011 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland. In Hamburg stellte er seinen Asylantrag, der 2012 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt wurde. Jamal klagte gegen diese Entscheidung. Ab diesem Zeitpunkt lebte er mit einer Aufenthaltsgestattung in Deutschland, bis das Hamburger Verwaltungsgericht über den Fall entschied. Das war nach fünf Jahren, im Jahr 2017. Wegen „mangelnder Mitwirkung des Klägers“ wurde das Verfahren eingestellt. Die Folge: Jamals Aufenthaltsgestattung erlischt, ab sofort ist er nur noch „geduldet“, denn abschieben kann man ihn im Moment nicht. Die Lage in Afghanis- tan oder fehlende Papiere lassen es offenbar nicht zu. Doch die Situation verändert sich: Jamal ist bald „vollziehbar ausreisepflichtig“ – und wird in den Flieger gesetzt. „Warum muss ein junger Mann, der ein Drittel seines Lebens in Deutschland verbracht hat, in ein ihm weitgehend unbekanntes Land abgeschoben werden“, fragte der BFR in seiner Pressemitteilung. Die Antwort nicht weniger Menschen in Deutschland darauf wäre: Weil er straffällig geworden ist.

Viele Jahre lebte Jamal unter uns. In dieser Zeit hat er sich einiges zuschulden kommen lassen. Nach Angaben des für Ausländerangelegenheiten zuständigen Einwohner-Zentralamtes in Hamburg war er mehrfach vorbestraft. Jamal wurde rechtskräftig verurteilt. Wegen Diebstahl, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Im Jahr 2013 ist er außerdem wegen des Verdachts auf Raub-, Drogen- und Körperverletzungsdelikte mehrfach angezeigt worden. Sein Vorstrafenregister sei der Grund gewesen, warum Jamal im Abschiebeflieger saß. Nach dem vorübergehenden Abschiebestopp nach Afghanistan würden „verurteilte Straftäter, Gefährder und Identitätsbetrüger“ nun wieder abgeschoben werden.

Die Wochenzeitung Die ZEIT hat in einem Mammutakt der journalistischen Recherche am 13. September 2018 unter dem Titel „Seehofers 69“ die Geschichten aller am 3. Juli 2018 nach Afghanistan Abgeschobenen nachvollzogen, soweit dies möglich war. Inwiefern die Beschreibung „Straftäter, Gefährder und Identitätsbetrüger“ die Abgeschobenen treffend und hinreichend bezeichnet, dazu kann sich nun jeder selbst ein Bild machen. Abgesehen davon aber drängt sich eine grundsätzliche Frage auf: Welche Straftat kann man eigentlich begehen, die es rechtfertigen würde, in den Tod geschickt zu werden? Von einem Land, das sich einmal aus guten Gründen gegen die Todesstrafe entschieden hat.

Als Jamals Tod an die Öffentlichkeit gerät, muss die Politik reagieren. Es werden Rücktrittsforderungen gegen den Heimatminister laut. Gyde Jensen, die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag, hält Seehofer nach seiner zynischen öffentlichen Freude über sein „Geburtstagsgeschenk“ für „offensichtlich falsch im Amt“. Das Bundesinnenministerium ringt sich dazu durch, den Tod Jamals als „zutiefst bedauerlichen Vorfall“ zu bezeichnen. Diese Einschätzung teile auch Minister Seehofer.

„Ich höre, wie Sie, Herr Innenminister Seehofer, einen Witz machen über Ihren 69. Geburtstag und die 69 Abschiebungen nach Afghanistan, und wenig später kommt eine Nachricht von dort: Einer der Abgeschobenen, Jamal Nasser Mahmoudi, habe sich in Kabul erhängt. Ich komme für mich zu dem einzig möglichen Schluss, dass Sie, Herr Minister Seehofer, keine Pressekonferenzen mehr geben und Geburtstage nicht mehr öffentlich feiern sollten.“ Das hat die Schriftstellerin Lina Atfah aus Salamiyya in Syrien für Die ZEIT in einem Offenen Brief an Horst Seehofer geschrieben. Die Lyrikerin wurde in ihrer Heimat im Alter von siebzehn Jahren der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt, heute lebt sie in Wanne-Eickel.

In ihrem Brief schrieb sie auch: „Wissen Sie, was Menschenfarmen sind? Dort werden wir gezähmt, unsere Gehirne werden gewaschen und unsere Seelen getötet. Und gleichgültig, ob sich unsere Zahl verdoppelt oder verringert, sind wir dort nichts als Nummern. Nummern, die laufen können. (…) Ich dachte, dass nur unsere elenden Länder von Tyrannei und Unterdrückung regiert wären. Ich dachte, dass Ungerechtigkeit nur von unseren Diktatoren ausgeht. Aber als ich Sie sah, während Sie die Anzahl ihrer Lebensjahre mit der Anzahl der Abgeschobenen verglichen, wusste ich, dass Unterdrückung keine Grenzen kennt. Dass sogar die Länder, die in meiner Fantasie ein Bild von Aufrichtigkeit und Menschlichkeit abgeben, ein hässliches Gesicht haben können.“

Der Text dieser Frau aus Syrien, die sich mit den nach Afghanistan Abgeschobenen vom 3. Juli 2018 solidarisierte, endet mit den Worten: „Ja, Herr Minister, die meisten Menschen sind, wenn sie ihre Lebensjahre zählen, voller Liebe im Herzen, und es gibt die unterschiedlichsten Methoden, das auszudrücken. Die Zahl der eigenen Jahre steht in solchen Momenten selten für das, was sie einem anderen Menschen nehmen, sondern für das, was sie anderen geben. ‚Mensch‘ – das ist das Wort, das ich gern nachträglich für Sie buchstabieren würde, auf Deutsch und auf Arabisch.“